Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU)
Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU)
Reform der Notfallversorgung: gemeinsames Positionspapier und Empfehlungen
Einleitung
Eine Reform der Notfallversorgung steht auf der Agenda des Bundesgesundheitsministeriums für 2022. Zahlreiche Vorgutachten bzw. Vorschläge liegen dazu vor. Hier erfolgt die fachärztliche Unterstützung aus dem Sektor Orthopädie und Unfallchirurgie (O und U).
Das folgende Eckpunktepapier beschäftigt sich mit der ambulanten Versorgung von Notfällen in Orthopädie und Unfallchirurgie, liefert eine kurze Analyse, erläutert wie eine leitliniengerechte Versorgung auszusehen hat und bietet konkrete, einfach umsetzbare Lösungsvorschläge.
Analyse der ambulanten Notfallversorgung im Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie
Eine kürzlich erschienene Übersicht des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) (2) zeigt die Entwicklung der ambulanten Notfälle in Kliniken und im ärztlichen Bereitschaftsdienst.
- Im Jahr 2019 wurde der ärztliche Bereitschaftsdienst der KVen demnach ca. 8,2 Mio. Mal, die Notfallambulanzen der Krankenhäuser 10,6 Mio. Mal in Anspruch genommen
- Für die Versorgung standen im Jahr 2019 ca. 830 Bereitschaftspraxen (SGB V spricht von Portalpraxen) bundesweit zur Verfügung, an der Notfallversorgung nahmen ca. 1200 Krankenhäuser mit ihren Notfallaufnahmen teil
- Für die Versorgung im Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie waren es im Jahr 2019 ca. 6300 Facharztpraxen und ca. 1200 Krankenhäuser
- Für die Versorgung von Arbeitsunfällen existieren im Jahr 2019 ca. 1.000 Ermächtigungen im Klinikbereich und ca. 2800 Ermächtigungen in den Praxen.
Zur Notfallversorgung in der Fachrichtung Orthopädie und Unfallchirurgie existieren keine bundesweiten Daten. Einen Anhaltspunkt liefern aber die Daten der KV Baden-Württemberg aus dem Jahr 2019. Die gesamte Notfallversorgung in Baden- Württemberg stützt sich auf 120 Portalpraxen und 200 Krankenhausambulanzen:
- In den 200 Notfallambulanzen wurden 2019 insgesamt 1,2 Mio. Scheine abgerechnet., davon 485.000 werktags, 541.000 zur Unzeit (Wochenende und spät abends) und 248.000 nachts
- Auf den Sektor O&U entfielen laut der vorliegenden Diagnoseverschlüsselung über 50 % (Kategorie S- und M-Diagnosen), wobei die akuten Verletzungen dominierten
- In den 120 Portalpraxen, d.h. im ärztlichen Bereitschaftsdienst, wurden 2019 in Baden-Württemberg gleich viele Notfallscheine wie in den Notfallkrankenhäusern abgerechnet. Bei den Diagnosen dominierten akute Infektionen, aber O und U-Diagnosen machen mit ca. 20 Prozent (T und S Diagnosen) ebenfalls einen beträchtlichen Anteil aus
- Der Bereich O und U dominiert in den Krankenhausnotaufnahmen das Notfallgeschehen: Unter den TOP 10 Diagnosen in den Krankenhäusern sind fünf sogenannte S-Diagnosen (akute Verletzungen). Weiterhin gehört die Behandlung von akuten, nichttraumatischen Schmerzzuständen, hier insbesondere Rücken-, aber auch akuten Gelenkschmerzen zu den Versorgungsleistungen, diese Diagnosen belegen Rang 8.
- In den Portalpraxen in Baden-Württemberg machen orthopädisch-unfallchirurgische Diagnosen ca. 20 Prozent aus – in den Portalpraxen werden vor allen Dingen akute Infekte behandelt.
Notfallversorgung in Orthopädie und Unfallchirurgie anhand von Leitlinien
Für das Fachgebiet Orthopädie und Unfallchirurgie existiert eine Reihe von Leitlinien zur bestmöglichen Versorgung von akuten Erkrankungen und Unfällen:
- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es in der Erstversorgung von Unfällen in den allermeisten Fällen der fachärztlichen Expertise, insbesondere der diagnostischen Abklärung mittels Röntgen, Sonografie, der sorgfältigen Wundexploration bzw. der fachgerechten Versorgung mit Verbänden und/ oder Hilfsmitteln bedarf
- Bei der Erstversorgung von akuten Rückenschmerzen oder Gelenkschwellungen sehen die Leitlinien zunächst die Diagnostik mittels Anamnese und klinischer Untersuchung als ausreichend an.
- Erst im Falle sogenannter „Red Flags“ sollte die weitere Diagnostik und Therapie unmittelbar fachärztlich erfolgen. Red Flags beinhalten im Falle von Rückenschmerzen z.B. klinische Hinweise auf osteoporotische Sinterungsfrakturen, Bandscheibenvorfälle usw., im Falle von Gelenkschwellungen Hinweise auf ein bakterielles Geschehen. Gibt es diese klinischen Hinweise, dann sollte die weitere Diagnostik und Therapie unmittelbar durch einen Facharzt für O und U übernommen werden.
Empfehlungen aus den vorliegenden Gutachten
Die existierenden Gutachten beklagen vor allem eine Fehlsteuerung von Patienten, die einer dringlichen Notfallbehandlung nicht zwingend bedürfen, und als Folge daraus überlange Wartezeiten in den Notfallaufnahmen. Als Konsequenz aus diesen Gutachten hat die letzte Bundesregierung den G-BA beauftragt, ein Konzept zur Ersteinschätzung zu erarbeiten, dieses liegt vor (1). Die Träger (DKG, KBV und GKV) konnten sich nicht in auf einen gemeinsamen Entwurf einigen, aber in vielen Punkten herrscht Einigkeit. Die konsentierten Empfehlungen werden im Folgenden analysiert.
- Standardisiertes Ersteinschätzungsverfahren
Vorgesehen ist, dass alle Notfallpatienten die Ersteinschätzung per Telefon, digital oder persönlich unverzüglich erhalten sollen. Minutenlange Warteschleifen sind inakzeptabel. Das Ersteinschätzungsverfahren selbst sollte innerhalb von zehn Minuten abgeschlossen sein.
In keiner Empfehlung ist vorgesehen, dass die Einschätzung durch einen Arzt vorgenommen werden muss, dieser sollte jedoch auf Zuruf erreichbar bzw. zuschaltbar sein.
Mit dem Ersteinschätzungsverfahren sollten die Dringlichkeiten priorisiert und Empfehlungen für eine geeignete Versorgung abgegeben werden. Bei verzögerter Dringlichkeit sollte die weitere Versorgung, z.B. im Regelbetrieb am nächsten Tag, nahtlos organisiert werden.
Kommentar aus der Sicht von O&U
Eine digitale unterstützte Ersteinschätzung ist zu begrüßen. Sie entlastet die Ärzte in den Krankenhausnotaufnahmen und hilft Bagatellen und nichtdringliche Fälle in die Regelversorgung zu überführen. Dazu bedarf es eines evaluierten digital unterstützen Ersteinschätzungsverfahrens, denn damit kann das Notfallsystem effektiv entlastet werden.
Um ein solches Ersteinschätzungsverfahren effektiv zu etablieren, sollte es aus unserer Sicht durch ein Ticketsystem ergänzt werden. Durch ein solches Ticket wäre der Patient der versorgenden Rettungsstelle oder Praxis als berechtigter Notfall vorab angemeldet, was für ihn eine kürzere Wartezeit bedeuten würde.
Patienten ohne ein entsprechendes Notfallticket nehmen die Rettungsstellen unberechtigt in Anspruch, verzögern die Behandlung von dringlicheren Notfällen und tragen zur Überlastung des Personals bei. Daher erscheint in diesem Fall eine Zuzahlung per nachträglicher Rechnung mehr als gerechtfertigt.
Die Patienten werden so durch verkürzte Wartezeiten und vermiedene Zuzahlungen gesteuert, am präklinischen Ersteinschätzungsverfahren teilzunehmen.
Findet die Ersteinschätzung „Inhouse“ statt, sollte auch dort ein evaluiertes Ersteinschätzungsverfahren durch nichtärztliches Personal zum Einsatz kommen. Dies ermöglicht es dann in den Rettungsstellen, eine verzögerte Priorisierung festzustellen und ggfs. den Verweis auf die Versorgung im Regelbetrieb.
Wer „Inhouse“ die Ersteinschätzung vornimmt – Rettungsstelle, Portalpraxis oder gemeinsamer Tresen – sollte vor Ort entschieden werden.
Empfehlungen BVOU und DGOU
- Die Ersteinschätzung sollte möglichst im präklinischen Bereich vorgenommen werden
- Dazu bedarf es eines evaluierten Ersteinschätzungsverfahrens
- 112 und 116117 sollten dieses standardisierte Verfahren verwenden
- Die Erreichbarkeit der 116117 muss deutlich und nachweislich verbessert werden, um effektiv steuern zu können
- Der Patient sollte ein sogenanntes Ticket nach Ersteinschätzung erhalten, das helfen soll, Wartezeiten und Zuzahlungen zu vermeiden
- Im Fall einer Ersteinschätzung „Inhouse“ sollte ebenfalls ein standardisiertes Verfahren zum Einsatz kommen
- Wer die „Inhouse Steuerung“ übernimmt – ob gemeinsamer Tresen, Portalpraxis oder Rettungsstelle, sollte den Kollegen vor Ort überlassen werden.
- Schaffen eines Netzwerks von Partnerpraxen
Das Ersteinschätzungsverfahren dient der Priorisierung und Steuerung in den für die Therapie des Patienten bedarfsgerechten Sektor. Hierzu steht ambulant der allgemeinmedizinische oder fachärztliche Bereich zu Verfügung. Der allgemeinmedizinische Bereich wird durch die hausärztlichen Praxen bzw. durch die Portalpraxen vertreten. Der fachärztliche Bereich wird in Orthopädie und Unfallchirurgie vertreten durch kassenärztliche Praxen bzw. durch die D-Arztpraxen und durch die Klinikambulanzen.
Für den Bereich der Unfallversorgung sehen die Leitlinien eine Versorgung nach Facharztstandard O und U vor.
Zu jeder Zeit stehen bei Unfällen nur orthopädische-unfallchirurgische Klinikambulanzen zur Verfügung, da nur hier die notwendigen Ressourcen in personeller Hinsicht bzw. bei der Ausstattung vorhanden sind. Werktags stehen darüber hinaus qualifizierte orthopädisch-unfallchirurgische Praxen für die Unfallversorgung zur Verfügung. Dies gilt insbesondere für die D-Arztpraxen (2800 ambulante Ermächtigungen).
Weiterhin könnten sich für die ambulante Unfallversorgung orthopädisch-unfallchirurgische Praxen registrieren, die über entsprechende Qualifikationen wie Röntgen, Sonografie, Eingriffs- und Gipsräume verfügen. Diese Praxen müssen verpflichtend entsprechende Kapazitäten für Notfälle bereithalten.
Um den Patienten eine gute Übersicht über dieses Versorgungsnetzwerk zu geben, bietet sich das Angebot einer App an, die verunfallten Patienten eine Übersicht über Ambulanzen und Praxen in der Nähe gibt, ggfs. sogar ergänzt durch die Angabe von Wartezeiten.
Die sonstige Notfallversorgung im Bereich O und U, dies ist insbesondere der akute Rückenschmerz, kann zunächst durch den allgemeinmedizinischen Sektor geleistet werden, zu Unzeiten durch die Portalpraxen. Wird durch die Ersteinschätzung eine aufgeschobene Priorisierung festgestellt, sollten hausärztliche bzw. fachärztliche Partnerpraxen entsprechende Slots bereithalten.
Empfehlungen BVOU und DGOU
- Bei Unfällen Einbeziehen von geeigneten Praxen in ein Versorgungsnetzwerk
- Übersicht über das Netzwerk in einer Unfall-App
- Im haus- und fachärztlichen Bereich müssen Partnerpraxen am nächsten Werktag Termine für Patienten mit aufgeschobener Priorisierung bereithalten
- Finanzierung des Notfalldienstes
Die Bereitstellung einer gut erreichbaren und qualifizierten 24/7 Notfallversorgung, auch für ambulante Notfälle, zeichnet den Gesundheitsstandort Deutschland aus. Tatsache ist aber, dass bisher sowohl der ärztliche Bereitschaftsdienst der KVen als auch der Betrieb der Krankenhausnotaufnahmen ein Zuschussgeschäft sind:
Im KV-Bereich wird der defizitäre Notfallbetrieb mittels Kopfpauschalen und Umsatzabgaben seit Jahren subventioniert. Auch in den Kliniken ist der Unterhalt der Notfallambulanzen defizitär und muss demnach durch Erlöse aus dem stationären Bereich quersubventioniert werden.
Eindeutig gehört die Notfallversorgung in den Bereich der Daseinsfürsorge. Die ökonomische Logik spricht dagegen, Daseinsfürsorge fallzahlabhängig zu finanzieren. Niemand würde erwarten, dass die Berufsfeuerwehren ihren mangelnden Deckungsbeitrag durch Lohnabzüge ausgleichen.
Empfehlungen BVOU und DGOU
- Um eine flächendeckende Versorgung zu erreichen, muss der ärztliche Bereitschaftsdienst bzw. die Vorhaltung einer Notfallambulanz als Mindestumsatz von den Krankenkassen vorfinanziert werden
- Die erlösten Honorare sind als Abschlagszahlungen zu leisten. Unterdeckungen zum Mindestumsatz sind von den Kommunen bzw. Ländern zu übernehmen.
- Honorare für die ambulanten Notfallambulanzen bzw. Praxen müssen Teil der extrabudgetären Vergütung sein, die von den Krankenkassen voll, ohne Abzüge und Mengenbegrenzung, bezahlt wird.
- Partnerpraxen sind von der Verpflichtung zur Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst zu entbinden
Zusammenfassung
Zur Verbesserung der Notfallversorgung im Bereich O und U bieten sich die folgenden Maßnahmen an, um die Probleme Wartezeit, Bedarfsgerechtigkeit und Unterfinanzierung zu beheben.
- Standardisierte, digital unterstützte und bundesweit einheitliche Ersteinschätzungen sollten möglichst schon präklinisch stattfinden
- Dazu muss die 116/117 ausgebaut werden
- Ohne präklinische Ersteinschätzung löst die Inanspruchnahme einer Klinikambulanz zur Unzeit eine Zuzahlung aus
- Die Klinik entscheidet, wer die standardisierte Ersteinschätzung vor Ort organisatorisch übernimmt
- Bei Notfällen mit verzögerter Priorität müssen Partnerpraxen zu den werktäglichen Übernahmen bereitstehen
- Partnerpraxen sind vom ärztlichen Bereitschaftsdienst zu befreien
- Eine Unfall- App soll der Bevölkerung eine Übersicht über das Versorgungsnetzwerk von Praxen und Ambulanzen geben
- Notfallversorgung ist Daseinsfürsorge und daher fallzahlunabhängig zu finanzieren
Dr. Burkhard Lembeck
Prof. Dr. Bernd Kladny
Prof. Dr. Dietmar Pennig
Quellen
- Ersteinschätzungsverfahren: Vier Konzepte liegen vor, Dtsch Ärztebl 2022; 119(25): A-1120 / B-940, Kurz, Charlotte; Osterloh, Falk
- Mangiapane S, Czihal T, von Stillfried D: The utilization of ambulatory emergency care and unplanned hospitalizations in Germany, 2010–2019. Dtsch Ärztebl Int 2022; 119: 425–6. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0160
- https://www.dguv.de/landesverbaende/de/med_reha/d-arzt-verfahren/d-arzt-verfahren/index.jsp