Berlin – Ambulante Notfälle sollten Niedergelassene und Krankenhäuser zukünftig idealerweise auf der Basis von Kooperationskonzepten versorgen, findet Dr. med. Andreas Gassen. Grundsätzlich seien zu Sprechstundenzeiten aber die Praxen aufzusuchen. Die Leistungen der Notfallambulanzen der Krankenhäuser sollten die KVen zukünftig strenger überprüfen – und gegebenenfalls nicht vergüten. Gassen ist Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und Mitglied im geschäftsführenden BVOU-Vorstand.
BVOU.net: Herr Dr. Gassen, eine Analyse des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat unlängst ergeben, dass Menschen in Deutschland häufig auch während der regulären Praxisöffnungszeiten und ohne ärztliche Einweisung Krankenhäuser aufsuchen. Dadurch belasten sie stationäre Notaufnahmen in Krankenhäusern und verursachen Kosten in Milliardenhöhe. Der Gesetzgeber will dem aber keinen Riegel vorschieben, sondern die Behandlung in Notaufnahmen besser vergüten. Was halten Sie davon?
Dr. med. Andreas Gassen: Damit löschen Sie im Grunde Feuer mit Benzin. Wir wissen doch, dass manche Krankenhäuser sehr wohl an Patienten für ihre Notaufnahmen interessiert sind. In Hamburg beispielsweise lässt ein Krankenhauskonzern kleine Lieferwagen herumfahren, auf denen für die eigene Krankenhausambulanz geworben wird. Es ist doch klar, dass hier nicht für Notfälle geworben wird, sondern Patientenakquise betrieben wird.
BVOU.net: Aber auch die Klinikärzte stöhnen ja unter der Belastung in den Notaufnahmen. Warum gibt es keinen ärztlichen Schulterschluss, daran etwas zu ändern?
Gassen: Der Schulterschluss funktioniert deshalb nicht, weil wir ihn nicht mit den Kollegen herstellen müssen, sondern mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Und das sind zwei verschiedenen Welten. Die DKG als Zusammenschluss von Krankenhausträgern hat weniger die Arbeitsbelastung der Kolleginnen und Kollegen in einer Notaufnahme im Blick als mögliche stationäre Aufnahmen von Notfallpatienten. Die sind einfach ein gutes Geschäft.
BVOU.net: Nur wenige machen Werbung für ihre Ambulanz. Es kommen auch so viele Patienten abends oder am Wochenende vorbei.
Gassen: Wir haben auf jeden Fall das Problem, dass die Patienten selbst entscheiden, wohin sie gehen, und man das nicht steuert. Da gibt es Patientengruppen, die, wenn sie krank sind, grundsätzlich ein Krankenhaus aufsuchen, weil sie es aus ihren Heimatländern nicht anders kennen. Das sind in Deutschland vor allem Menschen mit einem Migrationshintergrund. Deren Haltung ist ja gar nicht: „Ich will nicht in eine Praxis.“ Sie kennen es einfach nicht anders.
Bereitschaftsdienstnummer müsste noch bekannter sein
BVOU.net: Was müsste man da tun?
Gassen: Daraus leite ich ab, dass wir die Bereitschaftsdienstnummer 116 117 noch besser bekannt machen müssten.
BVOU.net: Die Analyse des Zi hat ergeben, dass auch während der regulären Öffnungszeiten von Praxen viele Patienten direkt in die Notaufnahme gehen. Darunter sind nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund. Welche Gründe spielen da Ihrer Kenntnis nach eine Rolle?
Gassen: Ich glaube nicht, dass das alles Patienten sind, die man in Praxen abgelehnt hat. Viele gehen auch direkt ins Krankenhaus, weil sie denken: „Da habe ich alles unter einem Dach und muss ich mir keine Gedanken machen um eine Terminvereinbarung.“ Nur muss man in diesen und anderen Fällen doch die Frage stellen: Was ist daran ein Notfall? Von der Definition her liegt ein Notfall vor, wenn einem Patienten oder einem Dritten eine ärztliche Behandlung unaufschiebbar erscheint.
BVOU.net: Für einen medizinischen Laien mag manche Situation dramatischer erscheinen, als sie es ist.
Gassen: Sicher ist im Einzelfall nicht immer leicht zu entscheiden, ob ein Notfall vorliegt oder nicht. Aber ganz sicher zählen normale Kontrolluntersuchung oder irgendein Checkup nicht zu den Notfällen. Und es liegt in der Regel auch keine akute Gesundheitsgefährdung vor, die es rechtfertigt, im Notdienst Leistungen wie Mammastanzbiopsien, Gastroskopien, Koloskopien oder anderes zu erbringen.
Vermeintlicher Patientenanspruch auf Autonomie und Bequemlichkeit
BVOU.net: Was müsste sich ändern, damit weniger vermeintliche Notfälle die Krankenhausambulanzen verstopfen?
Gassen: Wir müssten zu einer gesetzlichen Vorgabe kommen, die lautet: „Während der regulären Sprechstundenzeiten ist die Versorgung über die Arztpraxen in Anspruch zu nehmen.“ Die Inanspruchnahme der KV-Terminservicestellen zeigt ja gerade eindrucksvoll, dass wir kein echtes Terminproblem haben, sondern alle wirklich eiligen Fälle vermitteln können. Viele Patienten meinen allerdings, sie hätten einen Anspruch auf Autonomie und Bequemlichkeit. Diese Kranken wollen es dann nicht hinnehmen, sich etwas aufwendiger um einen Praxistermin zu bemühen oder sich als Notfallpatient ins Wartezimmer zu setzen.
BVOU.net: Und außerhalb der Praxiszeiten? In allen KVen wurde doch der Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte reformiert. Viele haben Bereitschaftsdienstpraxen an Krankenhäusern geschaffen, damit nicht die falschen Patienten in die Notaufnahmen der Krankenhäuser gehen, wenn die Praxen geschlossen sind. Warum reicht das nicht aus?
Gassen: Das reicht nicht aus, weil diese Bereitschaftsdienstpraxen eben nur dann geöffnet werden, wenn die normalen Praxen geschlossen haben, also am Wochenende, häufig auch mittwochs und freitags am Nachmittag. Wenn dorthin ein Patient kommt, kann sicherlich gut entschieden werden, ob man ihm direkt helfen kann, ob er eine bestimmte Diagnostik benötigt, die das Krankenhaus vorhält, oder ob er tatsächlich ins Krankenhaus muss. Dieses Angebot reicht aber auch nicht aus, weil es im Umfeld der Klinik mit einer Bereitschaftsdienstpraxis noch weitere Krankenhäuser gibt – alle mit eigenen Ambulanzen.
Strenger überprüfen, ob ein Notfall wirklich ein Notfall war
BVOU.net: Aber nicht an jedem Krankenhaus kann man eine Bereitschaftsdienstpraxis mit Vertragsärzten vorhalten.
Gassen: Nein, das wäre überflüssig. Aber man müsste vorschreiben, dass in Krankenhäusern in der Nähe einer Klinik mit einer Bereitschaftsdienstpraxis keine Notfallpatienten mehr angenommen werden dürfen, wenn sie nicht mit dem Krankentransport angefahren werden. Darüber hinaus sollte bei jedem Patienten, der während der normalen Sprechstundenzeiten in eine Krankenhausnotaufnahme gekommen ist und dort behandelt wurde, überprüft werden, ob er tatsächlich ein Notfall war. Und wenn nicht, dann sollte seine Behandlung den Krankenhäusern nicht vergütet werden.
BVOU.net: Passiert das bereits?
Gassen: Etliche KVen sind dazu übergegangen, die Leistungsspektren der Krankenhäuser im Notdienst zu überprüfen. Wenn dann herauskommt, dass Leistungen wie die erwähnten Mammastanzbiopsien oder Vergleichbares gemacht werden, dann ist schwer vorstellbar, dass das Leistungen für einen Notfallpatienten waren. Wir werden insgesamt in Zukunft die erbrachten Leistungen genauer überprüfen.
BVOU.net: Können die KVen den Krankenhäusern die Honorierung für Patienten verweigern, die wirklich keine Notfälle waren und noch dazu zu Sprechstundenzeiten ins Krankenhaus kamen?
Gassen: Ja.
Wer falsche Notfallpatienten abrechnet, bekommt kein Honorar
BVOU.net: Sollten Sie das Ihrer Meinung nach häufiger tun?
Gassen: Ehrlich gesagt: ja. Wenn Vertragsärztinnen und -ärzte bestimmte Vorgaben unterlaufen und nicht nach den Regeln abrechnen, dann erhalten sie kein Honorar. Für Krankenhäuser, die zu Lasten der ambulanten Budgets Notfälle abrechnen, die keine waren, sollten dieselben Regeln gelten. Konkret heißt das: Auch für sie würde der Vergütungsanspruch entfallen.
BVOU.net: Wie könnte eine tragfähige, dauerhafte Lösung für das Thema Bereitschaftsdienst/Notdienst aussehen?
Gassen: Idealerweise finden wir einen Weg, Notfälle in Kooperation mit den Krankenhäusern zu versorgen. Es sollte ein abgestuftes Konzept geben, das vorsieht, welche Kollegen auf welcher Stufe was behandeln. Weder der Bereitschaftsdienst bei den Niedergelassenen noch der Notdienst bei den Krankenhausärzten sind sonderlich beliebt. Auch deshalb sollten wir Doppelt- und Dreifachstrukturen in Zukunft vermeiden. Sie sind auch sinnlos, weil wir nicht beliebig viele Ärztinnen und Ärzte haben – und auch nicht beliebig viel Geld. Viele KVen sind in Gesprächen mit den Landeskrankenhausgesellschaften und den Kliniken vor Ort da auch schon sehr weit gekommen. Ein Teil der Krankenhäuser setzt sich ja schließlich auseinander mit Überlegungen, wo die eigenen Kompetenzen und Schwerpunkte liegen. Diese Häuser wissen, dass die Antwort darauf nicht eine überlaufende Notaufnahme ist.
Das Interview führte Sabine Rieser.
Weitere Informationen:
Zi: Vermeidbare Notfälle kosten Milliarden Euro