Neue Erkenntnisse und immer differenziertere Behandlungsalgorithmen haben auch im Bereich der Hüft- und Leistenpathologien zu Zentrumsbildungen geführt. International haben sich diese Modelle bereits erfolgreich etabliert.
So wird die Hüft- und Leistenschmerzsprechstunde der Sportklinik „Aspetar“ in Doha von einem multidisziplinären Team bestehend aus Orthopäde, Leistenchirurg und Physiotherapeut durchgeführt. Spezialisierte Hüft-Physiozentren wie z.B. das englische „Physio cure“ (Leeds) haben sich in der Versorgungslandschaft Großbritanniens bereits etabliert. Interdisziplinäre Kooperationen wie z.B. das „Wiener Hüftnetzwerk“ gewinnen zunehmend an Bedeutung. In Deutschland wird vergleichbaren Modellen bisher (noch) recht wenig Beachtung geschenkt. Gründe können hier sowohl in einer vielfach „veralteten“ Ausbildungsstruktur der Physiotherapie zu suchen sein, wie auch in einer häufig noch verbesserungswürdigen Kooperation zwischen Orthopädie/Unfallchirurgie und der Physiotherapie.
Ein Aufbau derartiger Kompetenzzentren in Deutschland könnte die nationale Versorgungsqualität von Hüftpatienten möglicherweise spürbar verbessern. Im Folgenden werden die Chancen dieser Modelle aufgezeigt.
Synergismen zwischen Arzt und Physiotherapeut
Mit wachsender Erfahrung und Expertise auf dem Gebiet der Hüft- und Leistenchirurgie werden die operativen Indikationsstellungen immer differenzierter. Ein verlässlicher physiotherapeutischer Qualitätsstandard ist dabei von nicht zu unterschätzender Bedeutung. So ist die Wertigkeit einer erfolgten physiotherapeutischen Intervention in der ärztlichen Sprechstunde häufig schwer einzuschätzen. Frage: „Ist der Patient wirklich konservativ austherapiert?“. Andersherum besteht bei einigen Physiotherapeuten eine gewisse Skepsis gegenüber operativen Therapieoptionen. Frage: „Ist die Entscheidung zur OP nicht doch zu schnell gefallen? Kennt der Operateur überhaupt alle konservativen Behandlungsalternativen?“.
Ein spezialisiertes Hüft-Physiozentrum erleichtert einen interdisziplinären Austausch und etabliert verbindliche Ansprechpartner. Dieses kann eine gewisse Anonymität abbauen und Transparenz zwischen allen Beteiligten schaffen. Nur so wird eine überzeugende und klare Kommunikation gegenüber dem Patienten möglich. Das resultierende Vertrauen wird zu einer besseren Therapieadhärenz und höheren Therapieergebnissen führen.
Inhaltliche Aspekte:
Einer der größten Vorteile stellt der inhaltliche Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen spezialisierten Ärzten und Physiotherapeuten dar. Gleiche Krankheitsbilder werden zum Teil aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beurteilt. Aus der Erfahrung der Autoren wird dabei häufig unterschätzt, wie differenziert die Herangehensweise der jeweils anderen Seite tatsächlich ist.
Die interdisziplinäre Diskussion der verschiedenen Ansätze verbessert die klinischen Fähigkeiten aller Beteiligten. Davon profitiert letztendlich wiederum der Patient. Der fachliche Austausch setzt allerdings eine ehrlich interessierte und wertschätzende gegenseitige Kommunikation zwischen beiden Berufsgruppen voraus. Einen wichtigen Meilenstein stellte die Einladung von entsprechenden Experten zur aktiven Mitarbeit in den jeweiligen Fachgesellschaften dar.
Berufspolitische Aspekte:
Auch aus berufspolitischer Sicht bietet eine „gelebte“ Kooperation zwischen spezialisierten Physio-Zentren und Ärzten große Chancen. Allen voran sollte die Ärzteschaft das „Zuweisungs-Potential“ eines solchen Zentrums nicht unterschätzen. Ein spezialisiertes Zentrum sieht ein großes Volumen vorselektierter Patienten.
Zudem entwickelt sich zwischen Patient und Physiotherapeut im Laufe der Zeit ein großes Vertrauensverhältnis und der Empfehlung des Physiotherapeuten kommt oftmals eine besondere Bedeutung zu. Anders herum profitiert die Physiotherapie vielfach von einer ärztlichen Empfehlung. All diese Aspekte lassen die verschiedenen Versorgungsbereiche (ambulante und klinik-tätige Operateure, Physiotherapeuten, konservative Orthopäden und Rehamediziner) enger zusammenwachen.
Optimierung der physiotherapeutischen Expertise
Ein spezialisiertes Hüft-Physiozentrum gewährleistet eine hohe fachliche xpertise und stellt somit eine optimale physiotherapeutische Behandlung der betroffenen Patienten sicher.
Die meisten Physiotherapeuten verfügen in der Nachbehandlung von klassischen orthopädischen Eingriffen (z.B. Rekonstruktionen der Rotatorenmanschette) über viel Routine. Im Gegensatz dazu fehlt vielen Therapeuten die Erfahrung im Umgang mit den modernen und immer differenzierteren Behandlungsstrategien von Hüftpathologien. Dieses gilt insbesondere für Patienten mit einem hohen Leistungsanspruch. Die aktuell unkoordinierte Verteilung der betroffenen Patienten auf diverse Praxen und Zentren erschwert die Entwicklung einer klinischen Expertise zusätzlich. Aus physiotherapeutischer Sicht führt dieses häufig zu einer Verunsicherung im Umgang mit diesen Krankheitsbildern, welche sich auch auf den Patienten übertragen kann. Die eingeschränkte klinische Erfahrung führt schnell zu Unter- oder Überforderungen in der Rehabilitation. Verzögerte Heilungsverlaufe und schlechtere klinische Outcomes sind mögliche Konsequenzen.
Ein entsprechend spezialisiertes Kompetenzzentrum würde auch als Anlaufpunkt für Komplexpatienten mit therapieresistenten Beschwerden dienen. Aspekte wie „Yellow Flags“ und Chronifizierung setzen besondere „Softskills“ im Management dieser Patienten voraus.
Die Physiotherapie verbringt viel Zeit mit dem Patienten, daher kommt ihr bei der Patientenführung eine besondere Rolle zu. Diese Anforderungen können insbesondere nicht-spezialisierte Therapeuten an Ihre Grenzen bringen.
Wissenschaftliches Arbeiten
Klar strukturierte physiotherapeutische Zentren ermöglichen eine engmaschige prä- und postoperative Anbindung der Patienten. Dieses stellt eine Grundvoraussetzung für eine wissenschaftliche Evaluation verschiedener Therapieansätze dar.
Standardisierte Behandlungsregime ermöglichen die Durchführung klar definierter Fachbehandlungskonzepte einschließlich einer kriterien-basierten Rehaprogression sowie eines regelmäßigen Monitoring (Fragebögen, klinische Untersuchungen und funktionelle Testungen).
Renommierte internationale Kliniken nutzen derartige Synergien um Ressourcen zu bündeln und die klinische Patientenversorgung mit der Forschung zu verbinden. Der wissenschaftliche Output dieser Zentren (z.B. „Sports Surgery Clinic“ in Dublin oder „Aspetar“ in Doha) spricht dabei für sich selbst.
Welche Patienten profitieren von diesen Kompetenzzentren?
Der therapeutische Schwerpunkt eines derartigen Zentrums umfasst das gesamte Spektrum der akuten und chronischen Hüft- und Leistenpathologien einschließlich der Rehabilitation nach entsprechenden operativen Eingriffen. Dazu zählen unter anderen:
- Symphysitis/„Weiche Leiste“/Osteitis pubis
- Greater Trochanteric Pain Syndrome
- Impingement-Syndrome (Cam, Pincer, Subspine, Ischiofemoral)
- Hüftarthroskopische Eingriffe und MiniOpen OPs
- Hüftdysplasie
- Korrigierende Osteotomien (z.B. PAOs, Derotationsosteotomien)
- Coxarthrose
- Hüftendoprothetik und Wechseloperationen
- Proximale Femur- und Beckenfrakturen
- Hüftgelenksnahe Muskelverletzungen (z.B. proximale Hamstringavulsionen, Adduktorenverletzungen)
- Coxa Saltans interna und externa
- Hüfterkrankungen des Kindes- und Jugendalters
- Unklarer Leistenschmerz
- Kombinierte Pathologien in der Lenden-Becken-Hüftregion
Das Patientenklientel erstreckt sich somit vom Kind über den Leistungssportler bis hin zum Senioren. Dieses ermöglicht perspektivisch die jahrzehntelange Begleitung eines Patienten und seiner Hüftgelenkserkrankung.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass spezialisierte Physiotherapiezentren und interdisziplinäre Hüftkompetenzzentren viele Vorteile bieten. Sie erhöhen die fachliche Expertise und bündeln Synergismen zwischen Ärzten und Physiotherapeuten. Zusätzlich schaffen sie interessante Rahmenbedingung für wissenschaftliche Projekte. Insgesamt wird die Versorgungsqualität der Patienten verbessert und die Ressourcenverteilung im Gesundheitssystem optimiert. Perspektivisch könnte eine Zertifizierung für interdisziplinäre Hüftzentren einen nationalen Qualitätsstandard gewährleisten.