Karlsruhe – Der Start war bescheiden: Ein paar Dutzend befreundete Gründungsmitglieder und der starke Wunsch, ihren wirtschaftlichen Interessen Gehör zu verschaffen, markieren den Anfang. Heute ist der BVOU mit 7000 Mitgliederinnen und Mitgliedern der größte Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie in Europa und eine starke Stimme in der Ärzteschaft.
Ein Jubiläum bietet nicht nur zum Feiern Anlass. Es ist auch eine Gelegenheit, das Woher und Wohin neu in den Blick zu nehmen. Die Medizin der Zukunft wird anders sein als zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte des BVOUs. Sie wird weiblicher, digitaler, partizipativer und qualitätsorientierter sein. Trotzdem sind die Ziele und Motive, die zur Gründung unserer Vorgängerorganisation geführt haben, heute nicht sehr viel anders als früher. Der BVOU setzt sich ungebrochen für die berufspolitischen Interessen seiner Mitgliederinnen und Mitglieder ein. Er entwickelt gemeinsam mit den wissenschaftlichen Fachgesellschaften Standards für die orthopädisch-unfallchirurgische Versorgung und prägt die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Radikal geändert haben sich allerdings die Rahmenbedingungen und Zwänge, unter denen wir heute arbeiten.
Aber vielleicht lohnt sich erst einmal der Blick zurück. Unsere Gründungsväter waren Kollegen, die sich persönlich kannten und regelmäßig trafen. Sie einte der Wunsch nach einer starken wirtschaftlichen Interessensvertretung, weil sie sich schlichtweg unterbezahlt fühlten und von der wirtschaftlichen Abteilung der damaligen Fachgesellschaft – der „Deutsche Orthopädische Gesellschaft (DOG)“ –, ignoriert sahen. Der Anlass für ihren Unmut war ein Streit mit der KV Württemberg. Diese hatte 1949 die damals übliche Fallpauschale für niedergelassene Orthopäden von zehn Mark pro Quartal auf sechs Mark reduziert. Die niedergelassenen Kollegen protestierten und planten eine Befragung in ihren Reihen. Dafür wurden Kosten in Höhe von 600 Mark veranschlagt, deren Übernahme ihnen die DOG verweigerte. Als Argument führte die Fachgesellschaft damals an, dass sie als gemeinnützige Gesellschaft keine Gruppe von Mitgliedern bevorzugen dürfte.
Die Streitigkeiten mündeten in einer wachsenden Entfremdung zwischen den niedergelassenen Orthopäden und den ordinierten Klinikchefs. Die Gründungsväter sahen sich zum Handeln genötigt und riefen am 29. April 1951 im Hotel Löchnerhaus auf der Insel Reichenau den „Wirtschaftsring Deutscher Orthopäden“ aus der Taufe. Im Paragraf 2 der Satzung hieß es damals: „Der Wirtschaftsring soll die wirtschaftlichen und Berufsinteressen seiner Mitglieder wahrnehmen, fördern und sichern.“ Zwei Jahre später führte der Wirtschaftring bereits das Wort „Berufsverband“ in seinem Namen und nannte sich „Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie e.V (BVO)“. Die Fusion von Orthopädie und Unfallchirurgie nach der Jahrtausendwende machte eine weitere Namensanpassung nötig. Seit 2006 heißt der Verband „Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie“. Mit der Einrichtung des gemeinsamen Facharztes setzt sich der BVOU für die Interessen aller Kolleginnen und Kollegen aus Orthopädie und Unfallchirurgie ein – egal ob sie in der Klinik oder in der Praxis tätig sind, ob sie wirtschaftlich selbstständig oder angestellt sind.
Über die Jahre hinweg ist auch die Gewinnung von Nachwuchs immer wichtiger geworden. Wir müssen angehende Ärztinnen und Ärzte heute nicht nur davon überzeugen, sich bei der Facharztausbildung für O&U zu entscheiden, sondern auch junge Kolleginnen und Kollegen für die berufspolitische Arbeit gewinnen. Unsere Stärke liegt in der breiten regionalen Struktur des BVOUs mit seinen 18 Landes- und 82 Bezirksverbänden, in denen sich derzeit 183 Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende für die Belange der Mitgliederinnen und Mitglieder vor Ort einsetzen. Wir brauchen junge Kolleginnen und Kollegen, die bereit sind, es ihnen gleich zu tun – die bereit sind, Einfluss auf die regionale Selbstverwaltung zu nehmen, Selektivverträge auszuhandeln, Tagungen und Qualitätszirkel zu organisieren und sich über die Landesärztekammern in die Definition und Umsetzung der Weiterbildungsinhalte einzubringen. Deswegen werben wir, wo immer wir können, für ein aktives Engagement in unseren Reihen.
Zu den Konstanten in der Geschichte des BVOUs zählt seine stetig wachsende Professionalisierung. Die Anfänge waren bescheiden – wie gesagt –, aber von einem großen Engagement und einem festen Gestaltungswillen getragen. Diese Geisteshaltungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des BVOUs und zeichnen alle aus, die den Verband über die Jahrzehnte gestaltet, geprägt und vorangebracht haben. Heute vertritt der BVOU 7000 Mitgliederinnen und Mitglieder und ist der größte Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie in Europa. Darauf können wir stolz sein. Die wachsende Professionalisierung führte auch zur Gründung einer zentralen Geschäftsstelle. Mit dem Umzug der Politik und der ärztlichen Körperschaften nach Berlin zog auch die Geschäftsstelle in die Hauptstadt um. 1998 wurde erstmals ein hauptamtlicher Geschäftsführer eingestellt. Heute arbeiten acht festangestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ein freier Mitarbeiter in der Geschäftsstelle. 23 Referate erarbeiten Lösungen für die ständig wachsenden fachlichen Herausforderungen in O&U. Geschäftsführer ist Dr. Jörg Ansorg.
Zu den Konstanten in der Geschichte des BVOUs zählt zudem der enge Schulterschluss mit den wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Trotz der Entfremdung, die zur Gründung des Wirtschaftsrings Deutscher Orthopäden geführt hatte, suchte der BVO sehr schnell wieder die Zusammenarbeit. Augenhöhe und wechselseitiges Vertrauen sind seither die Basis für die enge Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften. Damals wie heute mussten und müssen die Interessen der Mitgliederinnen und Mitglieder kraftvoll gegenüber der Politik, den Krankenkassen und den ärztlichen Körperschaften vertreten werden. Stark ist man nur mit einer starken Gruppe im Rücken. Das heute ist in dem immer komplexer werdenden Gesundheitssystem wichtiger denn je.
Schaut man auf die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen Orthopäden und Unfallchirurgen heute arbeiten, fallen die Verschiebungen im niedergelassenen Bereich auf. Früher war die Einzelpraxis Standard. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die neuen Standards sind Gemeinschaftspraxen und Medizinische Versorgungszentren. Die Kolleginnen und Kollegen können durch diese Kooperationsformen eine anspruchsvollere Versorgung anbieten und teilen sich die finanziellen und fachlichen Risiken. Diese Veränderungen haben auch den BVOU verändert. Die Interessen, die der BVOU heute vertritt, sind vielfältiger geworden, weil auch die Strukturen vielfältiger geworden sind. Unser Anspruch ist, die berufspolitischen Interessen aller Kolleginnen und Kollegen zu vertreten, unabhängig von ihrem Arbeitsumfeld und ihrer wirtschaftlichen Verantwortung.
Geändert haben sich auch die Gewichtungen in unserem Fach. Früher waren Orthopäden und Unfallchirurgen Generalisten, heute sind sie Spezialisten. Die konservative O&U verliert an Bedeutung, Operationen dominieren. Deshalb werden die jungen Kolleginnen und Kollegen heute vor allem operativ ausgebildet, nicht mehr konservativ. Sie haben daher auch den Wunsch, in der Niederlassung weiterhin zu operieren. Das ist heute über das Belegarztsystem, über Honorarverträge mit den Kliniken oder in Form von ambulanten Eingriffen ohne weiteres möglich. Wer sich früher mit eigener Praxis niederließ, behandelte ausschließlich konservativ. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist allerdings, dass die konservativen Inhalte unseres Faches immer weniger gelebt werden. Eine Entwicklung, gegen die sich der BVOU seit Jahren stemmt, weil die meisten Patienten konservativ behandelt werden müssen. Wir haben deshalb vor vier Jahren ein Weißbuch zur Konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie publiziert – mit einer klaren Botschaft an die Politik und in unsere eigenen Reihen: Die konservativen Inhalte sind unverzichtbar. Sie müssen angemessen vermittelt und vergütet werden. Es geht nicht ohne die konservative O&U.
Wir beobachten auch eine zunehmende Aufweichung der Sektorengrenzen. Die strikte Trennung von ambulant und stationär ist nicht mehr zeitgemäß. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir neue Strukturen und Versorgungsformen brauchen, um die wachsende Belastung unseres Gesundheitssystems durch die Überalterung der Gesellschaft mit ihren vielen muskuloskelettalen Krankheiten und Verletzungen zu schultern. Der BVOU beteiligt sich deshalb aktiv an der Entwicklung und Gestaltung solcher Konzepte und setzt sich dafür ein, dass die Medizin insgesamt zukunftsfähiger wird.
Damals wie heute gilt, dass Leistung fair und angemessen bezahlt werden muss. Das Ringen um eine angemessene Vergütung in Klinik und Praxis zieht sich ebenfalls wie ein roter Faden durch die Geschichte des Berufsverbands. Lange Zeit gab es nur drei Kategorien für die Abrechnung: Kassenpatient, Privatpatient und berufsgenossenschaftlicher Patient. Heute sind weitere Instrumente wie die Selektivverträge hinzugekommen. Diesen liegt ein gemeinsames Verständnis von Kostenträgern und Ärztinnen und Ärzte über die Aufgaben und Ziele der orthopädisch-chirurgischen Versorgung zugrunde. Sie vergüten Diagnosen und Vorhalteleistungen. Die Bildgebung ist wieder in fachärztlicher Hand. Der BVOU setzt sich seit Jahren für Selektivverträge und eine Honorarreform ein, die ihren Namen tatsächlich verdient.
Zu den vordringlichsten Anliegen des Berufsverbands zählte auch stets die Fortbildung seiner Mitgliederinnen und Mitglieder. In den Anfangsjahren geschah dies durch eigene Veranstaltungen, später durch gemeinsame Kongresse mit den wissenschaftlichen Fachgesellschaften. 2001 wurde die BVO-Stiftung Akademie Deutscher Orthopäden (ADO) unter Einbindung der DGOOC gegründet. Jüngstes Symbol für das Zusammenwachsen von Orthopädie und Unfallchirurgie ist die gemeinsam von BVOU und DGOU getragene Akademie für Orthopädie und Unfallchirurgie (AOUC), für deren Erfolg sich der BVOU seit Jahren stark macht. Ein wichtiges Anliegen ist zudem die transparente Kommunikation mit den Mitgliederinnen und Mitgliedern über die „Orthopädischen“ später die „Orthopädischen und Unfallchirurgischen Mitteilungen und Nachrichten“, den Infobrief und viele weitere analoge und digitale Kommunikationsformate.
In den vergangenen Jahren ist auch die unmittelbare Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten immer wichtiger geworden. Unsere Antwort darauf ist das digitale Arzt-Suche- und Informationsportal Orthinform, das monatlich von 200.000 Besucherinnen und Besuchern angeklickt wird. Hinter dem hohen Informationsbedürfnis steht ein radikaler Wandel in der Medizin. Nicht mehr die Eminenz zählt, sondern die Evidenz. Die Patientinnen und Patienten wollen heute wissen, welche wissenschaftlichen Daten hinter den angebotenen Behandlungsverfahren stehen. Paternalismus wird nicht mehr goutiert. Die Kranken wollen auf Augenhöhe mitbestimmen, denn sie müssen auch mit den Konsequenzen leben. Eine gemeinsame verantwortete Entscheidung braucht allerdings gute Entscheidungshilfen und Gesundheitskompetenz. Deshalb versteht der BVOU Orthinform als wichtiges Instrument zur partizipativen Entscheidungsfindung und verweist mit dieser Plattform auf die Kompetenzen und Expertisen seiner Mitglieder.
Ein radikaler Motor der Veränderung ist zweifellos die Digitalisierung. Es ist gerade einmal 14 Jahre her, dass Steve Jobs der Weltöffentlichkeit das erste iPhone präsentierte. Heute ist unser Alltag ohne mobile Geräte und das schnelle Internet nicht mehr denkbar. Wie wichtig und notwendig die Digitalisierung ist, hat uns auch die Coronakrise gezeigt. Vielleicht wären wir besser durch die Krise gekommen, wenn alle Akteure gut vernetzt und auf dem neuesten Stand der digitalen Technik gewesen wären. Wir brauchen den schnellen Datenaustausch und die vielen Instrumente des Datenmanagements und der Partizipation zweifellos. Deshalb haben wir auch die Arbeit der Geschäftsstelle in das digitale Zeitalter überführt. Bei der Implementierung der Digitalisierung in den klinischen Alltag erwarten wir allerdings, dass dies in enger Absprache mit den Ärztinnen und Ärzten geschieht und dass nur die Applikationen zum Einsatz kommen, die sinnvoll, sicher und im Rahmen unseres Zeitkorsetts mit vertretbarem Aufwand leistbar sind. Außerdem dürfen wir nicht mit einer Technik abgespeist werden, die bereits veraltet ist, wenn sie bei uns ankommt. Der BVOU wird die Entwicklung und Integration digitaler Konzepte aktiv begleiten.
Die Ziele sind gleichgeblieben, die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Die Reflektion unseres Woher und Wohin wird uns sicher helfen, in Zukunft noch schlagkräftiger zu werden. Ich gedenke und danke allen, die in sieben Jahrzehnten geholfen haben, aus einem kleinen Wirtschaftsring einen starken Verband zu machen und hoffe, dass sich auch in Zukunft viele Kolleginnen und Kollegen finden werden, die bereit sind, diese Mission fortzuführen.
Dr. Johannes Flechtenmacher, BVOU-Präsident