Lunsar/Sierra Leone – Soziales Engagement ist wichtig: Es zeigt der Gesellschaft, dass man in der Lage ist, nicht nur an sich selbst, sondern auch an andere Menschen zu denken. Auch viele BVOU-Mitglieder engagieren sich neben ihrer beruflichen Tätigkeit in verschiedenen sozialen Projekten. Dr. Wolfgang Haller (Ebersberg) und Dr. Artur Klaiber (Ebersberg) sind BVOU-Mitglieder und Vorsitzende von Orthopedics for the Developing World e.V. (ODW). Ihre Vision: Menschen in Ländern ohne Orthopädie und Unfallchirurgie vor Ort bestmöglich zu versorgen und einheimisches Pflegepersonal und ärztliches Personal in den Grundzügen dieser Chirurgie auszubilden.
Seit 1996 engagiert sich der Verein ODW e.V. (Orthopedics for the developing World) in Sierra Leone/Westafrika. Seit 2004, kurz nach Beendigung des Bürgerkrieges, werden durch unsere Mitglieder in einem Ordenskrankenhaus in Lunsar, ca. 150 km von Freetown entfernt, im Landesinneren von Sierra Leone, regelmäßig medizinische Einsätze durchgeführt. Schwerpunkt unserer Tätigkeit sind die orthopädische und unfallchirurgische Versorgung der Bevölkerung des Landes, sowie die Ausbildung des Krankenhaus-Personals und die Verbesserung der Infrastruktur der Klinik.
Die Situation in Sierra Leone
Sierra Leone ist eines der ärmsten Länder der Welt, eine medizinische Versorgung ist nur rudimentär vorhanden. Für die mehr als 7 Millionen Einwohner gibt es weniger als 200 ausgebildete Ärzte, eine Unfallchirurgie oder Orthopädie existiert überhaupt nicht! Für Europäer völlig unvorstellbar.
Von 1992-2002 wütete ein furchtbarer Bürgerkrieg im Land, der durch seine Kinder Soldaten eine schreckliche Berühmtheit erlangte. Nach einer Phase des Aufschwungs brach 2014 die Ebola Epidemie aus mit fast zwei Jahren Lockdown und vollständigen Zusammenbruch der Wirtschaft. Davon hat sich das Land immer noch nicht erholt. COVID spielt keine wesentliche Rolle im Land und im Gesundheitssystem. Die Gründe dafür sind nicht ganz klar; wahrscheinlich ist es einer Vielzahl von Faktoren zu verdanken wie z.B. dem geringen Durchschnittsalter der Bevölkerung (ca. 20a), den tropischen Temperaturen, die dafür sorgen, dass die Menschen viel im Freien leben und einer hohen Triggerung des Immunsystems durch viele endemischen Erkrankungen. (Malaria, Tuberkulose, Parasitosen usw..)
ODW: Unsere Aufgabe
ODW führt seit 2004 regelmäßige Einsätze in der Klinik “St. John of God“ in Lunsar durch, seit etwa 2010 sind es bis zu fünf Einsätzen pro Jahr jeweils für zwei Wochen. Ein Einsatzteam besteht in der Regel aus zwei bis drei Unfallchirurgen/Orthopäden, ein bis zwei Anästhesisten, ein bis zwei OP Schwestern und gelegentlich auch einem Physiotherapeuten. Parallel dazu wurde durch die Partner-NGO „GLOBOLAB“ ein kleines mikrobiologisches Labor, das einzige im Land, aufgebaut.
Im Laufe der vielen Jahre wurde die Infrastruktur der Klinik deutlich verbessert, es wurden zwei Operationssäle so ausgebaut, dass man mit gutem Gewissen orthopädische Operationen durchführen kann. Über Spenden wurden eine Vielzahl von Implantaten zur unfallchirurgischen Versorgung vor Ort gebracht, ein Fluoroscop wurde dieses Jahr verschifft, ein neuer OP Tisch und 50 Krankenhausbetten im letzten Jahr. Da es in Sierra Leone praktisch keine unfallchirurgische Primärversorgung gibt, liegt ein Hauptaugenmerk auf der operativen Versorgung von Pseudarthrosen und fehlverheilten Frakturen. Daneben sehen wir eine Vielzahl an Osteomyelitiden.
Aufgrund des hohen sekundären Infektionsrisikos, benutzen wir keine intramedullären OP-Verfahren, da im Notfall diese Implantate im ganzen Land von niemandem entfernt werden könnten. Ein Infekt mit Markraumphlegmone kann für den Patienten tödlich enden.
Trotz unendlich vieler Indikationen für einen Gelenkersatz ( Hüftkopfnekrose z. B. bei Sichelzellanämie) führen wir diese nicht durch, da auch hier niemand im Land eventuell notwendige Revisionen durchführen könnte. Eine Hauptaufgabe für uns besteht darin, Schulungen durchzuführen und Strukturen zu schaffen, um die Primärversorgung von Unfallpatienten zu verbessern. Bei frischen Frakturen wird, wenn möglich, konservativ vorgegangen mit Reposition und Gipsversorgung, hier erfolgen praxisbezogene Fortbildungen. Ganzjährig stehen wir mit dem Team vor Ort in Kontakt und besprechen Behandlungsstrategien. ( Hauptansprechpartner ist ein angestellter junger Arzt aus Sierra Leone, der inzwischen sogar operative Primärversorgungen mit Fixateur externe duchführen kann). Jedes Team führt eine Sprechstunde in der Ambulanz durch, im „Out Patient Department“. Diese wird vorher in Radio und Print Medien angekündigt. Beim letzten Einsatz im November 2021 waren weit über 250 Patienten in der Ambulanz. Zur Diagnostik gibt es ein digitales Röntgen, ein kleines Labor sowie ein Ultraschallgerät.
Die Diagnosen im OPD verteilen sich ungefähr wie folgt:
- 60% Pseudarthosen
- 20% Arthrose posttraumatisch oder infolge einer Nekrose
- 10% Kinderorthopädie mit Osteomyelitis, Klumpfuss , angeborene oder posttraumatische Fehlstellungen
- 10% Beschwerden der Wirbelsäule, regelmässig auch tuberkulöse Spondylodiscitis. Diese Patienten schicken wir dann über eine befreundete US-Stiftung zur OP nach Ghana.
Aus der Ambulanz werden die OP Kandidaten selektiert. Obwohl der Leidensdruck verständlicherweise sehr groß ist, muss man vielen Patienten leider absagen. Nicht „was kann der Operateur operationstechnisch leisten“ ist die Maxime, sondern „welche Verbesserung der Lebensqualität ist risikoarm durch eine OP zu erreichen“. Aus dem ganzen Land strömen inzwischen leidgeplagte Patienten nach Lunsar, wenn die „german bone doctors“, wie wir genannt werden, angekündigt sind.
Einsatz November 2021
Dieser Einsatz wurde gemeinsam mit „GLOBOLAB“ durchgeführt. Insgesamt flogen zehn Personen nach Sierra Leone, zwei davon für die Tätigkeit und die Schulungen im Mikrobiologischen Labor. Das Team versorgte 36 Patienten mit 44 Operationen. Schwerpunkt waren Plattenosteosynthesen bei teils lange zurückliegenden Frakturen, 8 x Femur, 4 x Tibia, 12 x obere Extremität. Zehn überwiegend sehr junge Patienten wurden wegen Osteomyelitis behandelt mit mehrfacher Curettage, Lavage und Einlage von Antibiotikaschwämmen vor endgültigem Verschluss.
Bei drei Patienten musste eine Amputation erfolgen, leider auch bei einem 10-jährigen Mädchen wegen hämatogener Osteomyelitis mit multiplen Fisteln der gesamten Tibia.
Parallel dazu wurden intensive Schulungen für das OP-Personal durchgeführt, das sehr engagiert und lernbegierig ist. Über den Rotary Club Ebersberg/Grafing finanzieren wir einen Ausbildungs-Assistenten an der Klinik, der bei diesem Einsatz alle Operationen assistiert hat beziehungsweise einfache Op’s selbstständig durchführte. Inzwischen erfolgt dies auch in unserer Abwesenheit (notwendige Amputationen oder Stabilisierungen mit Fixateur extern). Die Kommunikation und Indikationsabsprache erfolgt online. Er ist seit mehr als einem Jahr in der Klinik und ist als „unser Mann vor Ort“ für Traumapatienten zuständig.
Dr. Samuel ist sehr engagiert und handwerklich geschickt und sollte deshalb eine Weiterbildung in Allgemeinchirurgie/Unfallchirurgie erhalten, die wir hoffentlich in irgendeiner Form unterstützen können, z.B. in Form eines Stipendiums für einen Aufenthalt in Ghana oder Südafrika. Wie bereits gesagt, in Sierra Leone ist eine derartige Ausbildung derzeitig nicht möglich.
Eine Unterstützung durch den Berufsverband und seiner Mitglieder wäre natürlich sehr erfreulich und auch ein wirklich nachhaltiges Engagement.
Einsatz im Dezember 2021
Schwerpunkt dieses Einsatzes stellte die Behandlung der sog. „umgekippten Klumpfüße“ dar- ein Krankheitsbild, das es in unseren Breiten nicht gibt, da alle Neugeborenen bei uns sofort behandelt werden. Diese Erkrankung stellt nicht nur eine erhebliche körperliche Behinderung dar, sondern geht in Westafrika mit einer erheblichen sozialen Stigmatisierung und einer sozialen Ausgrenzung einher – diese Kinder werden selten zur Schule geschickt und haben wenig Chancen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Insgesamt wurden fast 30 Klumpfuß-Patienten aus dem ganzen Land operiert, Finanziert wurden diese Operationen durch die BIGSHOE Stiftung und dem Fußballers Antonio Rüdiger, deutscher Nationalspieler mit Wurzeln in Sierra Leone.
Ein weiterer Schwerpunkt ist eine angeborene Erkrankung , die es bei uns nicht gibt, die Sichelzellanämie, die zu schwerwiegenden Komplikationen wie Gefäßverschlüssen im gesamten Körper führen kann, oft einhergehend mit Knocheninfarkten und daraus resultierenden Osteomyelitiden. Die meisten dieser Kinder sterben vor Erreichen des 5. Lebensjahres. Diese Erkrankung bzw. ihre Komplikationen lassen sich im Rahmen eines Vorsorgeprogrammes relativ gut behandeln. Wir haben ein solches Pilotvorsorgeprogramm im Einzugsbereich des Krankenhauses St. John of God, begonnen. Dies schließt ein Neugeborenenscreening ein sowie ein medikamentöses Prophylaxeprogramm. Regelmäßige Kontrollen erfolgen in der von einheimischen Kräften durchgeführten Sichelzellambulanz. Dieses Projekt erfolgt in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium des Landes.(Verantwortlicher beider Projekte: Dr. F. Schmidt-Hoensdorf). Alle Aktivitäten unseres Vereins werden über Spenden finanziert. Für spezielle Probleme bekommen wir mittlerweile die Unterstützung von Interplast Germany, bayerische Staatsregierung , Rotary Club Ebersberg Grafing und rotarischer Distrikt 1842. Wir freuen uns über jede Spenden an unserem Verein, da sie unsere Aktivitäten erst ermöglichen. Alle Spenden kommen zu 100 % unseren Patienten in Sierra Leone zu Gute. Wir freuen uns aber auch ein Interesse an der Mitarbeit in unserem Verein zum Beispiel während eines Einsatzes oder bei der Akquise von Spenden!