„Um die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen zu fördern,
setzen wir zügig für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG um“, heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition der neuen
Bundesregierung. Doch was muss man sich denn unter Hybrid-DRG vorstellen?
Die Schnittstelle zwischen ambulantem und stationärem Sektor gilt als Schwachstelle im deutschen Gesundheitswesen. Ebenso unterschiedlich sind die Vergütungssysteme:
Im für den ambulanten Bereich gültigen Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) erfolgt eine stark pauschalierte Kalkulation mit Normkostenansatz, definierten Leistungsbündeln nach medizinischen und versorgungspolitischen Gesichtspunkten, Berücksichtigung von Arztleistung und technischer Leistung mit Modellierung des Zeit- und Kostenaufwands in einem Standardbewertungssystems; letztlich soll die Vollzeittätigkeit für gesetzlich Versicherte eine Entlohnung der Arztzeit erbringen, die dem Gehalt eines leitenden Oberarztes im Krankenhaus entspricht; die Vergütung einer Leistung resultiert aus der EBM-Punktzahl multipliziert mit dem Orientierungspunktwert; prägend ist das Prinzip der persönlichen Leistungserbringung.
Demgegenüber erfolgt im für den stationären Sektor angewandten G-DRG-System ein Istkosten-Ansatz und eine statistische Verteilungsrechnung, bei der die gesamten Fallkosten einer Krankenhausstichprobe sowie Diagnosen und Leistungen pro Fall in eine Regressionsrechnung eingehen, um das Relativgewicht je DRG zu ermitteln; der DRG-Katalog soll homogene Aufwandkategorien liefern. Es erfolgt eine jährliche Anpassung, Häufigkeitsänderungen von Diagnosen und Leistungen gehen ein; die Vergütung entspricht dem Produkt aus Relativgewicht und Landesbasisfallwert.
Hybrid-DRG verfolgen den Ansatz, vergleichbare Leistungen sektorenunabhängig bzw. entkoppelt vom Ort der Leistungserbringung – egal ob in Praxis, MVZ oder Krankenhaus – und vom Prinzip her preisgleich zu vergüten. Es sollen identische Qualitätsparameter, Dokumentations- und Prüfungsregelungen gelten. Die Wahl der Behandlungsform soll effizienter und ressourcenschonender, unter Beachtung von Qualität und Kosten enger am Bedarf des Patienten ausgerichtet und bürokratieärmer werden. Theoretisch ist die Festlegung der Vergütung nach Maßgabe immer desselben Sektors, nach Maßgabe des jeweils leistungsprägenden Sektors („Tarifgeberprinzip“) oder mit eigenständigen sektorenunabhängigen Vergütungsformen realisierbar. Eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) und dem Institut des Bewertungsausschusses (InBA) für den EBM könnte dabei mit einem Mischansatz die Harmonisierung zwischen stationärer und ambulanter Vergütung herbeiführen.
Die Einführung solcher bisher inhaltlich und finanziell nicht konkret definierter Hybrid-DRG und der damit auch zu erwartenden begleitenden Systemveränderungen bietet je nach Perspektive und in Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung verschiedene Chancen, aber auch zahlreiche derzeit nicht genau abzuschätzende Risiken:
Perspektive aus Sicht der Vertragsärzte und Freiberufler-MVZ
Im iGES-Gutachten wurde 2018 anhand von fünf häufig vorkommenden Fallbeispielen aus der Kategorie ambulant sensitiver Diagnosen – nicht aus dem Fachgebiet O&U – gezeigt, dass die unter DRG-Bedingungen zu erzielende Vergütung zwischen 1,3-fach bis 16-fach höher war, als die unter EBM-Bedingungen. Da gegenüber den Krankenhäusern eine Absenkung von Hybrid-DRG auf EBM-Niveau wegen derer höheren Vorhaltekosten ungerecht wäre, ist zu erwarten, dass Hybrid-DRG höher als im EBM, aber geringer als im DRG-System bewertet werden. Ein in Thüringen durchgeführtes Pilotprojekt mit der Techniker-Krankenkasse arbeitete bei vier Indikationen, darunter die Indikationen vordere Kreuzbandruptur und Karpaltunnelsyndrom, mit Mittelwerten. Das vertragsärztliche Bedürfnis nach Leistungsgerechtigkeit könnte so eher befriedigt werden. Welcher Anbieter diese Vergütung erhält, ließe sich durch Patientensteuerung beeinflussen – ein Wettbewerbsvorteil für Niedergelassene, solange kein limitierter Zugang zur Leistungserbringung bestünde, z. B. durch regionale Ausschreibung. In den vergangenen Jahren ist der Basisfallwert der Krankenhäuser wegen der Bindung an die höhere Grundlohnrate systematisch stärker gestiegen als der Orientierungspunktwert im vertragsärztlichen Bereich. Eine identische Systematik bei Hybrid-DRG könnte sich bei einer zukünftigen Preisfindung durch ein unabhängiges Institut mit jährlichen Anpassungen wie im G-DRG-System positiv auswirken. Die bisherigen Gesetze zur Öffnung der Sektorengrenzen haben weitgehend einseitig Krankenhäuser begünstigt, ambulant tätig werden zu können. Hybrid-DRG könnten nun auch niedergelassenen Ärzten die Möglichkeit zur Erbringung kurzstationärer Aufenthalte in Praxiskliniken bieten. Der demografische Wandel lässt einen zunehmenden Bedarf an „low-care“-Übernachtungen erwarten. Auch kostenintensivere Behandlungen könnten im niedergelassenen Bereich besser darstellbar werden. Falls für Hybrid-DRG ebenfalls das bisher für den stationären Sektor gültige Prinzip der „Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt“ zur Geltung käme, könnte das vertragsärztliche Leistungsangebot um innovative Verfahren erweitert werden.
Andererseits könnte die Bereitstellung ausreichender Kapazitäten Vertragsärzte vor Schwierigkeiten stellen, insbesondere wenn keine eigenen Einrichtungen zur Leistungserbringung genutzt werden. Hinsichtlich der Investitionen sind Vertragsärzte und Freiberufler-MVZ gegenüber den Krankenhäusern benachteiligt: Bedingt durch das dualistische Prinzip der Krankenhausfinanzierung erhalten Krankenhäuser ihre technische Ausstattung aus Steuermitteln. Ein fairer Ausgleich dieses Wettbewerbsnachteils wäre nur dadurch zu erzielen, dass diese Ausstattung auch den niedergelassenen Ärzten zur Verfügung stünde bzw. ein entsprechender Ausgleich geschaffen würde („Waffengleichheit“). In der Realität wäre dies schwer zu organisieren. Höhere, an Mittelwerten ausgerichtete Vergütungen, wie im TK-Pilotprojekt in Thüringen, könnten keinen dauerhaften Bestand haben und wurden in Äußerungen des Kostenträgers nur als „Übergangslösung“ eingestuft. Realistisch zu erwarten ist eher eine schleichende Annäherung an den EBM. Ein schon lange in Deutschland existentes und im Prinzip gut gedachtes System zur Überwindung der Sektorengrenzen ist das überwiegend aufgrund der ungünstigen Vergütungssituation ein Schattendasein führende Belegarztwesen. Dabei kommt nicht nur das Krankenhaus im Vergleich mit der Hauptabteilungs-DRG, sondern auch der Belegarzt im Vergleich mit dem ambulanten Operateur deutlich schlechter weg. Eine konzeptionell ähnliche Gestaltung von Vergütungen bei Hybrid-DRG wäre für Leistungserbringer nachteilig. Perspektivisch zu erwarten ist, dass aus sozialer Indikation notwendige Hotelleistungen oder höherer Pflegeaufwand im Rahmen dauerhafter Vergütungsregelungen mehr Berücksichtigung finden werden als im Pilotprojekt. Dies würde dann die Attraktivität für Krankenhäuser erhöhen, im ambulanten Bereich mehr als jetzt mit MVZ markterweiternd in Konkurrenz zu Vertragsärzten tätig zu werden. Gleichzeitig würden bisher das KV-System begünstigende Zugangshindernisse für Patienten zur ambulanten Behandlung im Krankenhaus (Überweisungsvorbehalt, „ambulant vor stationär“) voraussichtlich deutlich reduziert. Protagonisten der „doppelten Facharztschiene“ könnten sich erneut beflügelt sehen, niedergelassene Fachärzte als überflüssig darzustellen. Der Sachverständigenrat Gesundheit hat in dem von ihm vorgelegten Reformkonzept zur Bedarfsplanung Konzepte zur Harmonisierung von Krankenhausplanung und vertragsärztlichem Zulassungswesen vorgelegt. In Erwägung gezogen wurde auch die Einführung eines dritten Planungsbereichs für Leistungen, die sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden können. Derartige Planungskonzepte schwächen wahrscheinlich die Stellung der Vertragsärzte und treiben die Substitution ärztlicher Leistung voran. Dem kollektivvertraglichen System würden weitere Mittel und Einfluss entzogen.
Perspektive aus Sicht der Krankenhäuser
Bisherige EBM-Vergütungen sind für Krankenhäuser unattraktiv. Besser bewertete Hybrid-DRG würden die ambulante Behandlung ambulant behandelbarer Fälle für Kliniken attraktiver machen. Dies gilt insbesondere für Häuser in strukturschwachen Regionen, die zur Verbesserung der Erlössituation vermehrt ambulant behandeln. Die perspektivisch absehbare Konzentration der Notfallversorgung am Standort Krankenhaus mit den Integrierten Notfallzentren begünstigt tendenziell eine Zentralisierung der ambulanten und stationären Versorgung am Krankenhaus. Bürokratischer Aufwand für MD-Prüfungen könnte entfallen.
Andererseits mindern Verlagerungen aus dem stationären in den ambulanten Bereich die stationäre DRG-Erlössituation des Krankenhauses. In letzter Konsequenz werden stationäre Bettenzahlen auf den Prüfstand gestellt und Konzentrierungsprozesse auf wenige Klinikbetreiber unterstützt. Während im ambulanten monistischen Finanzierungssystem bei EBM-Vergütungen auch Anteile für Investitionen enthalten sind, erfolgt die Krankenhausfinanzierung in Deutschland nach dem dualen System. Investitionen fließen nicht in die Kalkulation der DRG-Vergütung ein, sondern werden theoretisch durch die steuerfinanzierte Förderung der Bundesländer gedeckt. Die bereitgestellten Landesmittel reichen in der Realität für die Investitionserfordernisse der Krankenhäuser oft nicht aus. Investitionen können daher bisher durch stationäre Fallzahlsteigerungen im DRG-System zum Teil mitfinanziert werden. Eine Ambulantisierung mit Hybrid-DRG nimmt Krankenhäusern diese Möglichkeit, was sie vor wirtschaftliche Schwierigkeiten stellen könnte, sofern keine neuen Systeme der Investitionsfinanzierung geschaffen würden. Krankenhäuser mit vielen Hybrid-DRG-Fällen ohne Übernachtung wären wirtschaftlich bessergestellt, eine entsprechende Risikoselektion des Patientengutes könnte zum Nachteil anderer Häuser erfolgen. Generell sind die heute oft peripheren Krankenhausstandorte mit weiteren Anfahrtswegen für ambulante Patientenbehandlung nicht unbedingt vorteilhaft. Die bestehenden baulichen Verhältnisse sind in vielen Krankenhäusern für ambulante Leistungserbringung suboptimal; eine kurzfristige Umorientierung zur ambulanten Medizin könnte für viele Krankenhäuser schwierig werden.
Perspektive aus Sicht der Kostenträger
Hybrid-DRG verringern die Anreize für Niedergelassene, Patienten stationär einzuweisen, wenn ambulante Behandlung möglich ist. Investition in ärztliche Versorgung kann Krankenhausfälle reduzieren. Hybrid-DRG bieten die Chance, dass sich die Behandlungskonzepte durchsetzen, welche unter medizinischen und ökonomischen Gesichtspunkten die besten Ergebnisse liefern. Begleitend zur Einführung können verbindliche und einheitliche Qualitätssicherungsmaßnahmen etabliert werden. Eine Kostenneutralität könnte realisiert werden, wenn das gesamte Ausgabenvolumen für die jeweilige Leistung auf den Gesamtbetrag zuvor ambulant und stationär vergüteter Leistungen gedeckelt würde. Bürokratischer Aufwand für MD-Prüfungen könnte entfallen.
Jedoch basiert die Vergütung ambulanter Eingriffe nach EBM auf veralteten, empirisch erhobenen Kostenkalkulationen, die gestiegene Kosten wie für Personal, Hygiene und neue rechtliche Vorgaben unzureichend berücksichtigen. Obwohl es sich größtenteils um extrabudgetäre Leistungen handelt, begünstigt die veraltete Kalkulationsgrundlage die Krankenkassen zum Nachteil der Leistungserbringer. Im Bereich der stationären DRG hingegen ist es üblich, die Höhe der Vergütungen jährlich den tatsächlichen Kosten anzupassen. Brächten Hybrid-DRG ebenso eine jährliche Neukalkulation durch ein unabhängiges Institut auf Basis der Ist-Kosten mit sich, wäre für Kostenträger mit einem Anstieg der Kosten zu rechnen.
Schlussfolgerung
Die Akteure im Gesundheitswesen werden genau beobachten und versuchen mitzugestalten, wie künftige Hybrid-DRG aussehen werden. Anzunehmen ist, dass gerade in O&U viele Hybrid-DRG definiert werden. Der BVOU ist hier gefordert, die Interessen seiner in Praxis und Klinik tätigen Mitglieder so zu vertreten, dass ein für beide Sektoren vorteilhaftes Ergebnis erzielt wird. Fair erscheint dabei z. B. die Idee einer identischen Bewertung von Eingriffen unabhängig vom Ort der Durchführung und ein Zuschlagssystem, welche das jeweilige Setting – ambulant oder stationär – abbildet. Klug wäre, wenn sich beide Sektoren vor Verhandlungen mit Dritten auf eine Linie einigen würden. Frieden im System kann nur gelingen, wenn Fallzahllimitierungen und Ausschreibungen, die bestimmte Leistungserbringer aussperren, vermieden werden.
Dr. med. Karsten Braun, LL. M.
BVOU-Referat Presse Medien