Karlsruhe/Baden-Baden – Daseinsfürsorge gehört zu den genuinen Aufgaben der Medizin. Fachkräftemangel, finanzieller Druck und strukturelle Probleme schaffen ein Klima, in dem es immer schwieriger wird, Versorgungs- und Patientensicherheit zu garantieren. Auch das Selbstbild der Medizin wird zunehmend angefragt. In diesem Interview schauen die VSOU-Kongresspräsidenten Professor Dr. Mario Perl und Dr. Johannes Flechtenmacher und der 1. Vorsitzende der VSOU Dr. Bodo Kretschmann auf diese Herausforderungen.
Herr Professor Perl, Herr Dr. Flechtenmacher und Herr Kretschmann. Aus Ihrer Sicht: Lässt sich eine gute Daseinsfürsorge heute überhaupt noch realisieren?
Professor Dr. Mario Perl: Daseinsfürsorge ist für mich ein übergeordneter Begriff. Man kann sie als Gegensatz zur reinen, hochelektiven Chirurgie sehen. Jeder hat Zugang zur Daseinsfürsorge – unabhängig vom Versicherungsstatus oder den Vorerkrankungen. Daseinsfürsorge ist allerdings umso schwieriger zu erbringen, je ungeplanter sie ist. Denn: Für alles, was nicht im Voraus geplant werden kann wie der klassische Unfall oder der akute Rückenschmerz müssen Ressourcen vorgehalten werden, die nicht anderweitig verplant werden können. Diese Ressourcen müssen bezahlt werden, egal ob sie in Anspruch genommen werden oder nicht. Deshalb ist Daseinsfürsorge ein Bereich, der sich nicht zu 100 Prozent kalkulierbaren lässt. Man braucht einen Überhang an Ressourcen – und dann wird es ganz schnell nicht mehr kostendeckend.
Dr. Johannes Flechtenmacher: Die Gesellschaft erwartet eine gute Versorgung mit niedrigen Wartezeiten und hoher Qualität. Dafür braucht man motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eine enge Zusammenarbeit zwischen den Sektoren. Seit Jahren zählt aber nur noch die Ökonomie. Geld wird eingespart oder erst gar nicht mehr ausgegeben. Der Wert meiner Arbeit hat sich in den vergangenen 25 Jahren halbiert. Gleichzeitig sind Nebenkosten und Mieten gestiegen, Personal ist teurer geworden. Es wird schwieriger, eine qualitativ hochwertige Versorgung umzusetzen. Wir wollen nicht immer nur über das Honorar lamentieren, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bleiben und angemessen bezahlt werden. Ohne Menschen, die die Versorgung erbringen, gibt es keine Daseinsfürsorge.
Dr. Bodo Kretschmann: Wir müssen Daseinsfürsorge realisieren, weil wir den Bedarf haben. Mein Thema ist, dass wir bei Kollegialität und Zusammenarbeit wieder zurück zu unseren Wurzeln müssen. Die Gräben zwischen ambulant und stationär, zwischen Hausarzt und Facharzt machen uns seit Jahren das Leben schwer und verhindern, dass wir die Versorgung abliefern, die wir tatsächlich abliefern könnten.
Zu den Kernproblemen des Gesundheitswesens gehört der eklatante Mangel an qualifiziertem Personal. Ist mehr Geld die Lösung?
Professor Perl: Ja und Nein. Auf der einen Seite ist Geld in unserer Gesellschaft eine wichtige Form der Wertschätzung. Wenn im Gesundheitswesen deutlich weniger gezahlt wird als in verwandten Berufen, dann spielt Geld sicher eine Rolle. Wir beobachten eine relevante Abwanderung von Fachkräften in die Industrie mit besserer Entlohnung und besseren Arbeitsbedingungen. Aber: Geld ist nicht alles. Früher konnte man mit Geld noch sehr viel mehr managen. Das ist heute anders. Heute müssen zusätzlich auch die Work-Life-Balance und die Entwicklungsmöglichkeiten stimmen.
Dr. Flechtenmacher: Es geht in der Tat nicht immer nur ums Gehalt. Auch Arbeitsbedingungen, Fortbildungen und Aufstiegsmöglichkeiten sind wichtig. Es gibt vieles, was einen Beruf attraktiv macht und das kostet eben auch Geld. Durch die extreme Fixierung auf eine betriebswirtschaftliche Sichtweise ist es schwerer geworden, attraktive Arbeitsbedingungen zu finanzieren. Das gilt sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Sektor.
Dr. Kretschmann: Ich sehe das ähnlich. Hier im Südwesten erleben wir eine hohe Abwanderung in die Schweiz, wo man für relevant weniger Arbeit das Vierfache verdient. Entscheidend ist aus meiner Sicht aber auch die Anerkennung der Arbeit. Anerkennung ist mehr als nur Klatschen auf dem Balkon. Die Arbeitsbedingungen sind durch die betriebswirtschaftlichen Überlegungen so grenzwertig geworden, dass die Fachkräfte dorthin abwandern, wo man ihnen bessere Arbeitsbedingungen und mehr Anerkennung bietet.
Wie wichtig ist den Gesundheitsberufen die Wertschätzung ihrer Arbeit?
Dr. Kretschmann: Wir müssen uns tatsächlich überlegen, was unserer Gesellschaft eine Medizin auf hohem Niveau wert ist. Den Kranken wird suggeriert, dass es alles zu jeder Zeit gibt. Das können wir auch, aber das muss eben auch bezahlt werden. Ich halte es für skurril, dass jeder Rückenschmerzpatient nachts um 3 Uhr einen Notfalltermin ausmachen kann. Da wird viel Geld in die Hand genommen, das an anderer Stelle besser investiert wäre. Wir schließen auch kleine, hochspezialisierte Kliniken mit Topbewertungen, nur weil sie klein sind. Alles wird betriebswirtschaftlich gemessen und durchorganisiert. Gleichzeitig wird dem Patienten vermittelt, dass er sofort behandelt wird, wenn er sich sonntags beim Fußballspielen den Fuß umgeknickt hat. Dann muss man auch ehrlich sagen, dass dies für dieses Geld nicht 24 Stunden und 7 Tage die Woche möglich ist.
Professor Perl: Der Begriff der Wertschätzung ist sehr, sehr relevant. Allerdings spielt Geld auch hier eine Rolle. Wenn jemand nachts einen schwerkranken Patienten betreut, muss sich die Gesellschaft fragen lassen, was ihr diese Arbeit wert ist. Diejenigen, die dies tun, haben derzeit den Eindruck, dass der Gesellschaft diese Arbeit weniger wert ist als das Luxusauto, das zur gleichen Zeit ein paar Kilometer weiter zusammengeschraubt wird. Im Grunde ist es eine gesellschaftspolitische Frage: Was ist mehr wert und wie viel ist es uns wert? Tagsüber sind die Pflegekräfte durchaus mit ihrer Arbeit und ihrem Gehalt zufrieden, aber wenn sie in der Nacht alleine auf der Station sind und nur 20 Prozent mehr bekommen statt dreimal so viel wie in anderen Branchen, kommt Unzufriedenheit auf. Dort, wo Extraleistungen nicht angemessen vergütet werden, wird es kritisch.
Dr. Flechtenmacher: Es geht immer um den Vergleich. Eine fachärztliche Behandlung im Quartal ist heute genauso viel wert wie ein guter Haarschnitt. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Mehr zahlt unserer Gesellschaft nicht für eine qualitativ hochwertige Versorgung. Finanzierung ist Teil der Wertschätzung, ohne Finanzierung gibt es keine Wertschätzung.
In der Terminologie des Gesundheitswesens sind Ärztinnen und Ärzte nur noch Leistungserbringer. Dabei ist Medizin ein Beruf mit hoher Idealisierung. Wirkt das demotivierend?
Professor Perl: Ich habe persönlich kein Problem mit dem Begriff Leistungserbringer. Der Begriff bedeutet nicht, dass damit keine Wertschätzung verbunden ist. Ich würde heute nicht mehr auf der Welle des Idealismus reiten. Arzt ist ein besonderer Beruf, aber mit Idealismus allein kann man auf Dauer niemanden begeistern. Das Medizinstudium bildet das Fundament des Arztseins. Aber gerade in der nachgeschalteten Facharztweiterbildung werden die Besonderheiten inklusive auch der besonderen Anforderungen oft erst für viele transparent und spürbar.
Dr. Flechtenmacher: Wir haben den schönsten Beruf der Welt. Es gibt keinen schöneren Beruf. Wir haben keinen Job, sondern eine Berufung, eine Mission. Wir können Menschen verstehen. Wir können ihnen sehr oft helfen, zwar nicht immer, aber dann können wir sie zumindest bestmöglich begleiten. Ich erlebe das als eine äußerst privilegierte Situation. Ohne Idealisierung geht es meines Erachtens nicht. Man steht nicht nachts um 3 Uhr auf und operiert jemanden einfach nur, um Geld zu verdienen. Dazu gehört schon ein gewisser Idealismus.
Professor Perl: Natürlich gibt es Kolleginnen und Kollegen, die das mit viel Idealismus tun – ich zähle mich auch dazu, aber es kann kein alleiniges Konzept sein. Idealismus reicht nicht immer aus, um genug junge Menschen für diesen Beruf zu motivieren. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob Idealisierung nicht auch ein Ersatzargument ist. Ich halte das für eine zweischneidige Argumentation.
Dr. Kretschmann: Ich sehe auch, dass wir einen tollen Beruf haben, aber es gibt auch viele andere tolle Berufe. Das allein reicht sicher nicht aus. Ich möchte einen Schritt zurückgehen. Wir bilden unsere jungen Kolleginnen und Kollegen nicht genügend aus. Wir bereiten sie nicht gut genug auf ihre Aufgaben vor. Wir dürfen unser Berufsethos von Seiten der Verwaltung auch nicht dahingehend instrumentalisieren lassen, dass wir alles mitmachen, was die Verwaltung an uns heranträgt. Wir müssen wieder zu dem kommen, was aus meiner Sicht verloren gegangen: echte Kollegialität und echtes Hand-in-Hand-Arbeiten. Wir müssen noch einmal über die Besonderheiten des Arztseins sprechen. Nicht über den Leistungserbringer, sondern über den Arzt.
Welche Rolle spielt Selbstausbeutung heute noch beim Arztberuf?
Dr. Kretschmann: Selbstausbeutung ist in der Medizin schon allein auf Grund der Arbeitszeitgesetze vorbei. Den Grad an Selbstausbeutung, den wir noch erlebt haben, gibt es nicht mehr.
Professor Perl: Ich tue mich mit dem Begriff Selbstausbeutung schwer. Ich würde eher von Beanspruchung sprechen. Ich glaube schon, dass die Beanspruchung in unserem Beruf deutlich höher ist als die Beanspruchung in vielen anderen Berufen. Das kann zum Nachteil werden. Wenn ich ganz nüchtern erlebe, dass nicht wenige Medizinstudierende Berufe ohne Patientenkontakt bevorzugen oder wenn ich mit Bewerberinnen oder Bewerbern spreche, die ganz offen sagen „Gleiches Geld, aber keine Wochenenddienste“, dann erlebe ich diesen Nachteil hautnah. Ich glaube, dass wir tatsächlich einen wunderbaren Beruf haben, der einem sehr viel gibt. Vor allem, wenn man in einer späteren Lebensphase verstanden hat, worum es geht. Aber in einer früheren Lebensphase, wenn man bei gleichem oder höherem Gehalt auch im Home-Office arbeiten und mittags mal mit dem Hund spazieren gehen kann, ist diese Extra-Beanspruchung mit Nacht- und Wochenenddiensten ein Problem.
Dr. Flechtenmacher: Zufriedenheit in Abhängigkeiten von verschiedenen Lebensphasen zu betrachten, halte ich für einen interessanten Ansatz. Dass Sinnhaftigkeit und Wertschätzung im Laufe des Lebens unterschiedlich beurteilt werden, ist sicher ein wichtiger Punkt. Darüber sollten wir mehr nachdenken.
Braucht die Medizin ein neues Selbstbild?
Dr. Kretschmann. Wir brauchen wieder unser altes Selbstbild. Ich glaube, dass wir uns wieder auf alte Werte besinnen müssen, weil sie das Verhältnis zum Patienten erleichtern. Wir müssen das System auch so gestalten, dass wir nicht an allen Ecken angreifbar sind, weil wir ständig versuchen, irgendwelche Kompromisse zu machen. Am Ende geht es um die Patientenversorgung, um nichts anderes.
Professor Perl: Ich weiß nicht, ob wir ein neues Selbstbild brauchen, aber wir brauchen erhebliche strukturelle Veränderungen. Ich sehe unsere Generation in der Verantwortung, unser Fachgebiet neu zu definieren und zukunftsfähiger zu machen. Ob diese Veränderungen in einem neuen Selbstbild münden werden oder in einer Modifikation des alten, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass sich unser Fach – und ich möchte hier ausdrücklich nur für unser Fach sprechen, nicht für die gesamte Medizin, – erheblich modifizieren muss, um zukunftsfähiger zu sein. In welche Richtung diese Veränderungen gehen werden, wird die junge Generation selbst entscheiden müssen. Wir sitzen im Moment aber an den Stellen, wo wir gestalten können. Aus meiner Sicht müssen wir jetzt gut zuhören und versuchen herauszufinden, was für unser Fachgebiet zukunftsträchtig ist und was nicht.
Dr. Flechtenmacher: Ich bin der festen Überzeugung, dass der selbstbestimmte, der freie Arzt für die Patientinnen und Patienten am besten ist. Wenn jemand in das von diesem Geist getragene Arzt-Patienten-Verhältnis mit betriebswirtschaftlichen oder ideologischen Vorgaben hineinregiert, leiden letztendlich immer die Kranken. Sie sollten im Mittelpunkt stehen.
Wie viel Fachkompetenz und wie viel Haltung brauchen Ärztinnen und Ärzte?
Dr. Flechtenmacher: Das Medizinstudium ist nicht gleichzusetzen mit der Ausbildung zum Orthopäden und Unfallchirurgen. Unser Fach wird im Studium kaum gelehrt. Facharzt für O&U wird man erst nach dem Studium. Man braucht Intellektualität, Empathie, manuelles Training und Ausdauer. Man muss auch fähig sein, nachts um 4 Uhr aufzustehen und jemanden zu operieren. Das kann nicht jeder oder jede. Das kann man auch nicht einfach abfragen.
Professor Perl: Das Studium bildet zunächst breit Mediziner aus. Das heißt nicht automatisch, dass alle dann auch am Patienten tätig werden. Wir müssen mehr Wert darauflegen, dass wir tatsächlich dann auch praktische Ärztinnen und Ärzte ausbilden. Mit der Hausarztquote wurde hier bereits ein Anfang gemacht. Derzeit können sich nicht einmal drei Prozent der Studienanfänger vorstellen, in einem chirurgischen Fach tätig zu werden. Diese Zahl nimmt über das Studium sogar noch ab. Ohne Nachwuchs brauchen wir uns über Dinge wie Arbeitszeiten, Vergütungsoptimierung und Optimierung des Arbeitsfelds gar keine Gedanken zu machen.
Dr. Kretschmann: Ich glaube auch, dass das Medizinstudium modernisiert werden muss. Natürlich müssen die Grundlagen gelegt werden, entscheidend sind aber auch Kompetenzen wie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit oder betriebswissenschaftliche Themen. Es ist immer noch so, dass ein 1.0er-Abitur zu einem Medizinstudium verpflichtet. Wir wählen die Fleißigen aus, aber nicht die guten Ärztinnen und Ärzte.
Die VSOU-Jahrestagung feiert in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag. Wie jung ist der Kongress?
Professor Perl: Wir haben den Kongress in den vergangenen Jahren erheblich verändert und zusammen mit dem Vorstand der VSOU einen sehr jungen, professionalisierten Kongress generiert, mit aktuellen Themen, im Schulterschluss mit der Industrie und im Schulterschluss mit den jungen Kolleginnen und Kollegen. Wir erreichen Niedergelassene und Kliniker, Entscheidungsträger und junge Talente. Damit ist der Kongress exzellent aufgestellt.
Dr. Flechtenmacher: Die VSOU-Jahrestagung hat sich an eine veränderte Welt adaptiert und deckt alle relevanten Aspekte von O&U ab. Sie ist in der Tat ein sehr junger Kongress.
Dr. Kretschmann: Es ist jetzt auch wieder Zeit für eine Präsenzveranstaltung. In den vergangenen zwei Jahren wurde vieles online gemacht. Zu einem Kongress gehört aber auch der informelle Austausch.
Was erwartet die Teilnehmer vom 28. bis zum 30. April 2022 in Baden-Baden?
Dr. Flechtenmacher: Neu sind die Podiumsdiskussionen, bei denen Themen auch kontrovers diskutiert werden. Wir wollen bewusst den offenen, vielschichtigen Dialog um die Zukunft unseres Faches fördern. Kommen Sie nach Baden-Baden und diskutieren Sie mit.
Professor Perl: Die Teilnehmer können sich drei Tage lang auf hohem Niveau zu den aktuellen Themen unseres Faches informieren und austauschen. Wir haben ein breites Angebot von berufspolitischen und fachspezifischen Themen zusammengestellt, bis hin zu Kursen, in denen Skills erlernt werden. Da sollte für jeden etwas dabei sein. Kommen Sie nach Baden-Baden und sind Sie Teil dieser großartigen Jahrestagung.
Dr. Kretschmann: Dem kann ich mich ganz und gar anschließen. Feiern Sie auch unseren 70. Kongress-Geburtstag mit uns.
Das Interview führte Dr. Hildegard Kaulen.