Karlsruhe – Viele Praxen und Kliniken suchen händeringend nach gut ausgebildeten Fach- und Pflegekräften. Offene Stellen können immer seltener besetzt werden. Schwierige Vermittlung bei Engpassberufen heißt das im sperrigen Deutsch des Arbeitsmarkts (1). Wer glaubt, dass der Fachkräftemangel nur eine der vielen Verwerfungen der Corona-Pandemie ist und dass sich die Situation bald wieder bessern wird, irrt. Es wird kein Zurück zu alten Zeiten geben, weil der demografische Wandel einer der wichtigsten Ursachen für den Fachkräftemangel ist (2). Es gibt eine wachsende Lücke zwischen denen, die aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden und denen, die nachrücken.
Wie dramatisch die Entwicklung ist, machen die demografischen Zahlen deutlich, die die Bundesregierung in der kürzlich verabschiedeten Fachkräftestrategie nennt (3). Derzeit ist jeder Zweite in Deutschland über 45 Jahre alt. Jeder Fünfte ist über 66 Jahre alt. Rund 1,1 Millionen Menschen werden in den kommenden zwei Jahren das Renteneintrittsalter erreichen und aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Dieser Gruppe stehen nur rund 740.000 Menschen zwischen 14 und 15 Jahren gegenüber, die die freiwerdenden Arbeitsplätze in naher Zukunft besetzen könnten. Gleichzeitig gibt es fast zwei Millionen offene Stellen. So viele wie noch nie zuvor in Deutschland.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg hat im vergangenen Jahr ausgerechnet, dass ohne Zuwanderung und ohne Steigerung der Erwerbsquote 2035 über sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen werden (4). Zu der Zeit sind nicht in einmal alle Baby-Boomer in Rente. Diese Zahlen machen unmissverständlich klar, dass der Fachkräftemangel keine vorübergehende Misere, sondern auf Dauer gestellt ist.
Was heißt das nun für unseren Arbeitsalltag? Zum einen sollten wir die Hartnäckigkeit des Problems anerkennen. Wir werden dauerhaft mit weniger Personal auskommen müssen, auch wenn die Politik durch Zuwanderung und durch Steigerung der Erwerbsquote Abhilfe schaffen will. Man wird sehen, wohin das führt. Zum anderen sollten wir uns klar machen, dass die aktuellen Initiativen zur Digitalisierung den Fachkräftemangel nicht beheben werden, denn viele Aspekte unseres Arbeitsalltags lassen sich nicht digitalisieren. Auch zum primären Arzt-Patientengespräch und zu einer eingehenden körperlichen Untersuchung gibt es keine digitalen Alternativen.
Viele der aktuellen Digitalisierungsinitiativen dienen ohnehin nur dem Controlling der Krankenkassen, die die Daten dann für ihre Zwecke nutzen. Diese Initiativen helfen uns nicht mit weniger Personal zurechtzukommen oder die Last der Versorgung besser zu schultern, weil sie nicht an unsere Versorgungsrealität angepasst sind. Sie sind weder überzeugend noch zweckmäßig noch alltagstauglich, sondern kostspielige und zeitraubende Prestigeprojekte, die uns das Leben schwer machen.
Was würde uns denn tatsächlich helfen, mit weniger Personal auszukommen? Zum Beispiel ein kluges, papierloses, datensicheres und mit der Praxissoftware synchronisiertes Onboarding-System für das Aufnahme-Management, mit dem sich die Kranken selbst registrieren können, ähnlich dem Einchecken beim Fliegen. Das System würde die Patientinnen und Patienten begrüßen, sie anmelden, alle wichtigen medizinischen und abrechungsrelevanten Daten erheben und diese Daten in Echtzeit in die Praxissoftware integrieren, wo sie dann zur Verfügung stehen. Die Patientinnen und Patienten könnten sich über dieses Onboarding-System auch über die Behandlungsabläufe informieren und einen Eindruck von den Prozessen in unseren Kliniken und Praxen gewinnen. Durch ein gezieltes Feedback könnten sie zudem helfen, das System weiterzuentwickeln, so dass es mit jedem Tag besser wird. Weltweit gibt es bereits erste Onboarding-Systeme.
Auch der schnelle und sichere elektronische Transfer von Bilddaten wäre eine große Hilfe. Eine echte Hilfe könnte auch eine funktionierende elektronische Patientenakte sein. Dafür muss die ePA allerdings vollständig und sinnvoll strukturiert sein und mit allen Praxis- und Klinikverwaltungssystemen kompatibel sein. Die derzeitige Version ist schlichtweg unbrauchbar. Außerdem fehlt noch die Akzeptanz seitens der Patientinnen und Patienten. Ohne diese Akzeptanz ist das Projekt zum Scheitern verurteilt.
Im Grunde sollte es eine einheitliche KBV-App geben, mit der Patientinnen und Patienten über ein Praxisleitsystem eine passende Ärztin oder einen passenden Arzt finden und dort einen Termin buchen können. Die Patientinnen und Patienten sollten sich dann mit dieser App auch über die Onboarding-Systeme der Praxen und Kliniken anmelden und papierlos aufnehmen lassen können. Sie sollten über diese App zudem Rezepte und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen anfordern können. Im Grunde könnte man über eine solche App die Versorgung neu strukturieren und die Patientenflüsse besser steuern. Dazu muss man aber groß und nicht klein denken.
Es gibt derzeit kein Patentrezept gegen den Fachkräftemangel in der Medizin. Was uns bisher an Digitalisierung geboten wurde, ist jedenfalls kein Patentrezept. Wir sollten uns daher keine Illusionen machen: Das Problem bleibt und es braucht mutige und innovative Lösungen. Andere Länder sind da schon weiter. Der Weg in die Zukunft ist kein Weg zurück in alte Zeiten.
Dr. med. Johannes Flechtenmacher
Schatzmeister des BVOU
Karlsruhe
Literatur:
Bernardt F., Krinitz J., Mönnig A. et al. (2022). Forschungsbericht 602. Fachkräftemonitoring für das BMAS. Mittelfristprognose bis 2026.
www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb602-fachkraeftemonitoring-fuer-das-bmas.html
Schludi M., Müller J., Felde I. et al. (2018) Zentrale Befunde zu aktuellen Arbeitsmarkthemen. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
https://doku.iab.de/grauepap/2018/Zentrale_Befunde_zu_aktuellen_Arbeitsmarktthemen.pdf
Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Stand Oktober 2022
www.bundesregierung.de/breg-de/suche/fachkraeftestrategie-der-bundesregierung-2133828
Fuchs J., Söhnlein, D., und Weber D. (2021) Demografische Entwicklung lässt das Arbeitskräfteangebot stark schrumpfen. IAB-Kurzbericht 25ǀ https://doku.iab.de/kurzber/2021/kb2021-25.pdf