Das kortikale Desmoid, in der Literatur auch als Distale Femorale Kortikale Unregelmäßigkeit (distal femoral cortical irregularity, DFCI) oder Kortikales Irregularitätssyndrom bezeichnet, ist ein häufiger Zufallsbefund in der radiologischen Diagnostik des Kniegelenks.1,2 Sowohl seitens der Radiologie als auch bei den mit den Befunden konfrontierten Kolleg*innen herrscht oft Unsicherheit hinsichtlich der Dignität und somit auch Unklarheit über die Notwendigkeit weiterer Diagnostik und Therapie. Aufgrund dessen werden eine hohe Anzahl von Patient*innen mit DFCI in tumororthopädischen Fachabteilungen vorgestellt. Dies kann auch aus Sicht von Patient*innen zur Verunsicherung führen und provoziert mitunter einen vermeidbaren personellen und apparativen Mehraufwand. Zu einer erschwerten Einordnung des Befundes trägt auch die oft uneinheitliche Nomenklatur bei. So wird bei der Verwendung des Terminus „Desmoid“ oft an den Desmoidtumor (Synonym: Aggressive Fibromatose) gedacht. Es handelt sich hierbei um eine (myo)fibroblastische Neoplasie mit aggressivem, lokal infiltrativen Wachstum und hohen Rezidivraten.3,4
Das Kortikale Desmoid (im Weiteren wird die Abkürzung DFCI verwendet) weist keine histopathologischen Merkmale eines Desmoidtumors auf und gilt als benigne, selbstlimitierende strukturelle Veränderung. Es handelt sich um eine fibröse oder fibrös-knöcherne Läsion, deren Abgrenzung zum nicht ossifizierenden Fibrom (NOF) schwierig sein kann. In der Literatur wird eine strikte Unterscheidung beider Läsionen kontrovers diskutiert.5
Histopathologisch zeigt sich bei der DFCI eine hypozelluläre Läsion mit erhöhter osteoklastischer Aktivität sowie proliferierendes und osteokartilaginäres Gewebe.6 An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass bei Verdacht auf eine DFCI nur in absoluten Ausnahmefällen eine Biopsie gerechtfertigt ist.
Die DFCI wird vorwiegend am juvenilen und adoleszenten Kniegelenk detektiert. Die Läsion findet sich dabei insbesondere im Bereich des posteromedialen Femurkondylus am Ansatz des M. gastrocnemicus (90 % der Fälle), seltener an der Aponeurose des M. adductor magnus (10 %)2, 4 (Abb. 1). In bis zu 33 % kann ein DFCI bilateral nachgewiesen werden.4 In Einzelfällen wird eine Manifestation der DFCI am proximalen Humerus im Bereich der Muskelansätze von M. pectoralis major et deltoideus beschrieben (aus semantischen Gründen sei hier angemerkt, dass die Bezeichnung Humerales Kortikales Irregularitätssyndrom hier treffender wäre).7
Als zugrundliegender pathophysiologischer Mechanismus für die Entstehung der DFCI wird eine Insertionstendinopathie durch wiederkehrenden mechanischen Stress am femoralen Sehnenansatz des M. gastrocnemicus oder M. adductor magnus diskutiert (sog. „tug-leason“ oder „Zugläsion“). Durch repetitiven Zug kommt es zu einer ossären Stressreaktion mit lokalisierter temporärer Resorption des Knochens.5
Die Gesamtinzidenz der DFCI beträgt zwischen 3,6 % und 11,5 %, der Nachweis wird bei Jungen etwa dreimal häufi ger erbracht als bei Mädchen.8 Da die Magnetresonanztomographie (MRT) heutzutage aufgrund unterschiedlicher Indikationen in größerer Zahl auch bei Jugendlichen und Kindern durchgeführt wird, wird auch die DFCI aufgrund der höheren Sensitivität der MRT im Vergleich zum konventionellen Röntgenbild häufi g nebenbefundlich diagnostiziert.9 Insbesondere bei Patient*innen mit hohem körperlichen Aktivitätslevel wurde eine erhöhte Inzidenz beschrieben. So zeigte eine Untersuchung von Fröhlich et al bei n=108 Schweizer Alpin-Skifahrer*innen im Alter zwischen 13–15 Jahren mit 63 % eine deutlich erhöhte Inzidenz im Vergleich zu den Ergebnissen vorheriger Studien.10 Auch Stern et al konnten in Ihrer Studienpopulation von leistungsorientierten Skifahrer*innen im Vergleich zur Kontrollgruppe mit 58 % eine deutlich erhöhte Inzidenz für eine DFCI nachweisen.2 Dies stützt die Theorie, dass eine DFCI als „Zugläsion“ vermehrt bei sportlichen Patient*innen mit einem hohen körperlichen Aktivitätslevel auftritt. Demnach sollte diese Patientenklientel in der Diagnostik bzw. Einordnung der Befunde besonders bedacht werden.
Die DFCI wird in der Regel als asymptomatischer Zufallsbefund beschrieben. Die Mehrzahl der verfügbaren Studien, die eine relevante Anzahl von Patienten untersuchen, bezieht sich auf epidemiologische und MRT-morphologische Aspekte in asymptomatischen Patientenkohorten. Bislang werden in der vorliegenden Literatur nur im Rahmen von Fallberichten symptomatische Patienten mit rezidivierenden Knieschmerzen mit dem MRT-Befund einer DFCI korreliert.4,11 In der eigenen Erfahrung kann, nach Ausschluss anderer struktureller oder funktioneller Pathologien am Kniegelenk, eine DFCI bei Patient*innen mit posteromedialem Knieschmerz ursächlich sein.
Im klinischen Alltag in der Orthopädie und Unfallchirurgie werden Patient*innen mit akuten oder chronischen Kniegelenksbeschwerden vorstellig. Je nach Situation erfolgt im diagnostischen Vorgehen zunächst eine strukturierte Anamnese sowie körperliche Untersuchung. Sollte eine radiologische Diagnostik notwendig werden, ist ein fundiertes Verständnis der charakteristischen Befunde der DFCI notwendig, um diese sicher zu erkennen und differentialdiagnostisch abgrenzen zu können. Wichtige Differentialdiagnosen sind maligne Neoplasien wie das Osteosarkom oder Ewing Sarkom, Osteonekrosen, Osteolysen, andere benigne Raumforderungen oder (akute)
Verletzungen. Neben der oft eindrücklichen bildmorphologischen Erscheinung maligner Tumoren ist die Abgrenzung zu anderen benignen fi broossären Raumforderungen wie dem NOF oder dem fi brösen kortikalen Defekt oft schwierig. Eine diagnostische Hilfestellung kann hierbei die Tatsache sein, dass sich letztere Befunde nicht auf die typische Lokalisierung einer DFCI im Bereich der Sehnenansätze beschränkt sind, sondern sich auch andernorts diametaphysär manifestieren können.
Den größten Stellenwert in der radiologischen Diagnostik hat die native MRT. Bei isoliertem Vorliegen einer DFCI mit typischer MRT-Bildmorphologie (s. u.) ist eine weiterführende Diagnostik mittels konventionellem Röntgen, Computertomographie (CT) oder gar nuklearmedizinischen Untersuchungen nicht indiziert. Radiologisch ist die DFCI als Kortikale Irregularität oder als Defekt am posterioren Femurkortex auffällig. Diese Auffälligkeiten sind auf die Sehnenansätze/Aponeurosen zu reproduzieren.
MRT
In der MRT ist die DFCI ein umschriebener, in der Regel ovaler Bereich mit hoher Signalintensität, der sich auf fettunterdrückten protonendichte- oder T2-gewichteten Scans in den Knochen ausdehnt und meist einen dünnen dunklen Rand in der Peripherie aufweist, der die Sklerose darstellt. Da beim Jugendlichen Knie eine dünne, bandförmige Hyperintensität aufgrund des ausgeprägten periostalen Stratum osteogenicum ein zu erwartender Befund ist, sollten nur kortikale Unregelmäßigkeiten mit einem anteroposterioren Durchmesser von mehr als 2 mm als verdächtig für eine DFCI interpretiert werden. Die Größe der DFCI wird auf sagittalen fettunterdrückten Protonendichte- oder T2-gewichteten MRT-Scans als der größte anteroposteriore Durchmesser der kortikalen Hyperintensität bestimmt. Das Vorhandensein einer begleitenden paratendinösen zystischen Läsion ist optional, jedoch nicht selten als Zusatzbefund darstellbar (Abb. 2).
Röntgen/CT
Auf konventionellen Röntgenbildern erscheint eine DFCI als kleiner röntgenstrahlendurchlässiger Bereich mit umgebender Sklerose bzw. am ehesten untertassenförmige, röntgenstrahlendurchlässige kortikale Unregelmäßigkeit. In der CT zeigt sich zusätzlich eindrücklich das Fehlen einer äußeren kortikalen Begrenzung in typischer Lokalisation (Abb. 3 & 4). Als Primärdiagnostik der DFCI sind konventionelles Röntgen und CT nicht notwendig, werden jedoch weiterhin häufi g in Unkenntnis der Entität des DFCI oder einer unklaren Beschwerdesymptomatik durchgeführt.
Szintigraphie
Nuklearmedizinisch kann die DFCI im Rahmen einer Positronenemissionstomographie mit radioaktiv markierter 18F-Fluordesoxyglucose (FDG-PET) durch lokal erhöhten Metabolismus nachgewiesen werden. Als Routinediagnostik ist diese Nachweismethode jedoch keinesfalls zu betrachten.
Im eigenen klinischen Alltag werden wiederkehrend Patient*innen mit typischer postermedialer Gonalgie und dem Nachweis einer DFCI in der MRT-Diagnostik vorstellig. Konkordant zu den Untersuchungen der Arbeitsgruppen von Stern und Fröhlich zeigt sich auch bei unserem Patientenkollektiv, dass es sich hierbei oftmals um sportlich hochaktive Kinder bzw. Jugendliche handelt. Somit kann aus unserer Erfahrung die weit verbreitete Auffassung, dass es sich bei der DFCI stets um einen asymptomatischen Zufallsbefund handelt, nicht uneingeschränkt unterstützt werden.
Im Rahmen einer eigenen Untersuchung wurden Patient*innen mit einem lokalisierten posteromedialen Knieschmerz unter körperlicher Belastung von solchen mit unspezifi schen Knieschmerzen unterschieden.12 Untersucht wurden n=23 sportliche Patient*innen mit einem Durchschnittsalter von 13.74 ± 2.74 Jahren. Alle klagten bei der initialen Vorstellung über Symptome im Sinne von Kniegelenksschmerzen. Bei 52 % der Kohorte wurde ein isolierter postermedialer Knieschmerz unter körperlicher Belastung angegeben. 65 % der Patient*innen erhielten extern eine konventionelle Röntgendiagnostik, 13 % sogar eine native CT. Im Mittel wurden 1,91 ± 0,97 MRT pro Patient*in angefertigt, in einigen Fällen insgesamt bis zu vier MRTs des betreff enden Kniegelenkes. Diese Daten stützen die
eingangs beschriebene Problematik, dass unnötige und oftmals auch redundante Diagnostik in Zusammenhang mit der DFCI durchgeführt wird. In 39 % der Fälle zeigte sich in der MRT neben der DFCI-typischen Läsion an der Insertion des medialen Gastrocnemiuskopfes eine begleitende paratendinöse Zyste. Anhand der erhobenen Daten wurde ein Algorithmus etabliert, der eine strukturierte Hilfestellung in der Behandlung von Patient*innen mit einer DFCI darstellen soll (Abb. 5).
Fazit für den Alltag:
- Eine DFCI ist ein häufiger Bildbefund in der MRT-Diagnostik des Kniegelenkes von Kindern und Jugendlichen
- Eine DFCI ist in der Regel am (postero)medialen Femurkondylus lokalisiert, im Bereich der Aponeurosen von M. gastrocnemicus et adductor magnus
- Als zugrundliegender pathophysiologischer Mechanismus wird demzufolge eine Insertionstendinopathie durch wiederkehrenden mechanischen Stress postuliert
- Eine native MRT ist der diagnostische Goldstandard, andere bildgebende Verfahren sind nur in Ausnahmefällen indiziert
- Eine DFCI ist oft asymptomatisch, kann aber nach Ausschluss anderer Pathologien ursächlich für einen posteromedialen Knieschmerz sein
- Das Krankheitsbild ist regelhaft selbstlimitierend, die Behandlung erfolgt vorrangig physiotherapeutisch
Literatur auf Anfrage bei der Redaktion.