Bünde – Ob zur Beurteilung chronischer Wunden oder zur Nachkontrolle nach einer OP – viele Arztbesuche dauern für Pflegeheimbewohner nur wenige Minuten, sind jedoch gerade in ländlichen Regionen oft mit einem enormen zeitlichen und organisatorischen Aufwand für Pfleger, Patient und Arztpraxis verbunden. Um die Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu erleichtern und Verlaufskontrollen zu vereinfachen, hat das Ärztenetz Medizin und Mehr (MuM) in Bünde ein System zur elektronischen Arztvisite (elVi) entwickelt. Seit Juni 2016 erproben die Bünder Mediziner elVi in einem Pilotprojekt mit mehreren Pflegeheimen.
Insgesamt 17 Ärzte und 15 Pflegeheime nehmen mittlerweile an dem Testlauf von elVi teil und haben bisher über 400 elektronische Visiten durchgeführt. Begleitet und evaluiert wird das Projekt durch das Zentrum für Telematik und Telemedizin in Bochum. Für die Durchführung der elektronischen Visite brauchen Arzt und Pflegeeinrichtung nicht mehr als einen Laptop oder ein Tablet mit Internetzugang, Kamera und Mikrofon, sowie die Software, die das MuM gemeinsam mit Partnern aus der Informations- und Medizintechnik entwickelt hat. Diese garantiert eine sichere Übertragung der Daten über verschlüsselte Kanäle und eine sichere Speicherung auf Servern im Inland, erklärt Dr. Hans-Jürgen Beckmann, Gründungsmitglied und Vorstand des Ärztenetzes MuM und einer der Initiatoren der elVi.
Sowohl von den Ärzten als auch von den Pflegeheimen sei das Angebot der elektronischen Arztvisite gut angenommen worden, berichtet Beckmann. Dabei werde das System bereits von verschiedensten Fachgruppen eingesetzt: „Neben einer größeren Zahl von Orthopäden und Chirurgen nehmen auch mehrere Hausärzte, eine Augenärztin, ein Neurologe, zwei Hautärzte und ein Psychotherapeut aus unserem Ärztenetz an dem Pilotprojekt teil“, zählt Beckmann auf. Der niedergelassene Chirurg betreibt gemeinsam mit acht weiteren Kollegen eine orthopädisch-chirurgische Gemeinschaftspraxis in Bünde.
Entlastung für Patienten und Pflegeheime
Sein Kollege, der Unfallchirurg Peter Rosellen, nutzt die elVi ebenfalls von Beginn an und ist von den Vorteilen der Online-Videosprechstunde überzeugt: „Wir haben hier eine relativ ländliche Struktur. Deshalb ist es für Heime manchmal sehr schwierig, die Patienten zum Beispiel nach einer Operation für die Kontrolle in die Arztpraxis zu bringen.“ Gerade für schwer kranke oder bettlägerige Patienten sei der Transport in die Praxis inklusive Fahrt und Wartezeiten eine enorme Belastung. Zugleich sei auch der Aufwand für die Pflegeheime groß, die die begleitenden Pflegekräfte teils für mehrere Stunden entbehren müssten. „Hier bringt die elektronische Visite eine große Entlastung und Zeitersparnis, zum Teil auch für uns Ärzte“, sagt Rosellen.
Denn auch unnötige Bagatellbesuche im Pflegeheim oder Krankenhauseinweisungen kann die elektronische Visite vermeiden helfen, wie Beckmann erklärt: „Ist zum Beispiel ein Patient im Heim gestürzt und das Pflegepersonal unsicher, ob und wie er versorgt werden muss, können wir uns das erst einmal mit Hilfe von elVi anschauen und über das weitere Vorgehen entscheiden: Muss der Patient sofort versorgt oder geröntgt werden? Oder reicht es vielleicht auch, wenn er am nächsten Tag zu uns in die Praxis kommt?“
Verlaufskontrollen vereinfachen und Vorort-Besuche sinnvoll reduzieren
So können sich die Pflegeheime sowohl spontan in dringenden Fällen als auch zu vorher verabredeten Sprechzeiten mittels elVi an die behandelnden Ärzte wenden. Diese schauen sich dann zum Teil gleich mehrere Patienten pro Pflegeheim nacheinander an. Bei den Orthopäden und Unfallchirurgen handele es sich dabei meist um postoperative Kontrollen, erklärt der Unfallchirurg Rosellen: „Mit Hilfe der Kamera und der Unterstützung der Pflegekraft können wir Operationswunden begutachten, die Mobilität der Schulter nach einer Humeruskopffraktur überprüfen oder auch das Gangbild des Patienten nach einer Hüft-TEP.“
Bei dem Großteil der Pflegeheimbewohner konnte die Anzahl der Praxisbesuche für Nachkontrollen oder Wundmanagement dank elVi um mindestens die Hälfte reduziert werden, sagt Beckmann. Dabei geht es den Bünder Ärzten nicht darum, den persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient in der Praxis durch die Fernvisite zu ersetzen, sondern lediglich die Betreuung des Patienten zu unterstützen und zu verbessern.
Weitere Anwendungen und Zertifizierung
Auch weitere Anwendungen der elektronischen Visite sind für die Bünder Chirurgen denkbar und befinden sich derzeit in Planung, so zum Beispiel die Nutzung in der ambulanten Pflege oder bei der Zusammenarbeit mit Physiotherapeuten und Reha-Kliniken. Der nächste Schritt der Bünder Ärzte ist nun die Zertifizierung von elVi entsprechend der Rahmenvorgaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des GKV-Spitzenverbandes. Diese hatten sich im November vergangenen Jahres auf die technischen Anforderungen für Online-Videosprechstunden geeinigt. Ab Juli 2017 soll die Televisite zudem laut E-Health-Gesetz als eigene EBM-Leistung Teil der vertragsärztlichen Regelversorgung werden.