Berlin – Die Entscheidung, den Orientierungswert für ärztliche und psychotherapeutische Leistungen im nächsten Jahr bundesweit nur um 1,18 Prozent steigen zu lassen, hat heftige Kritik ausgelöst. Die Erhöhung hat der Erweiterte Bewertungsausschuss gegen die Stimmen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) beschlossen. Der Honorarzuwachs beläuft sich hierdurch auf 438 Millionen Euro im kommenden Jahr. Hinzu kommen rund 80 Millionen Euro, die die Krankenkassen mehr bereitstellen müssen, um den steigenden Behandlungsbedarf aufgrund zunehmender Krankheiten und einer immer älter werdenden Bevölkerung zu decken. Insgesamt sind dies inklusive einer kleinen Nachzahlung 525 Millionen Euro. Nur durch voraussichtlich 400 Millionen Euro für extrabudgetäre Leistungen, wie beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen, und 50 Millionen Euro für die Stärkung des nicht-ärztlichen Praxispersonals kommt die Gesamterhöhung um rund eine Milliarde Euro zustande. Zum Vergleich: Die Gesamtvergütung beträgt aktuell rund 37 Milliarden Euro.
KBV: Bruttolohnsteigerung liegt bei drei Prozent
Empört hat der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg auf die Ergebnisse der Honorarverhandlungen auf Bundesebene reagiert. „Im Ergebnis sind das 70 Cent pro Fall im Quartal mehr. Drei Pfandflaschen vom Discounter, also 70 Cent mehr für die Versorgung im Quartal für einen Patienten – das ist die Botschaft der Bundesebene der Krankenkassen an die Menschen und niedergelassenen Ärzte, wie viel sie ihnen wert sind“, zeigten sich Vorstandschef Dr. Norbert Metke und sein Stellvertreter Dr. Johannes Fechner verärgert. Das Ergebnis sei ein fatales Signal an die Ärzteschaft, sagte auch KBV-Chef Dr. Andreas Gassen vor Journalisten. Bei überlaufenden Finanzreserven der Kassen und einer Bruttolohnsteigerung von im Schnitt drei Prozent würden die Ärzte und Psychotherapeuten zunehmend abgekoppelt. Dringend notwendige Investitionen könnten so nicht getätigt werden.
BVOU-Präsident: Fachgruppe O und U mit Hilfe von Honorarverteilungsmaßstäben angemessen bezahlen
Auch BVOU-Präsident Dr. Johannes Flechtenmacher kritisierte die Entscheidung. „Mit solchen Erhöhungen erreichen wir keine Zuwächse, die die ambulante Versorgung dringend benötigt“, sagte er. „Das Geld reicht insgesamt auch nicht aus, um die wünschenswerten Gehaltserhöhungen beispielsweise für Medizinische Fachangestellte zu finanzieren.“ Die MFA-Gehälter steigen in den medizinischen Einrichtungen, die nach Tarifvertrag bezahlen, rückwirkend zum 1.4.2017 um 2,6 Prozent linear und ab 1.4.2018 nochmals um 2,2 Prozent. Der BVOU-Präsident forderte zudem, Erhöhungen vor allem den Facharztgruppen zukommen zu lassen, die in den letzten Jahren nicht von Honorarsteigerungen profitiert hätten, obwohl sie erheblichen Anteil an der Patientenversorgung hätten. Hierzu zählten auch niedergelassene Orthopäden und Unfallchirurgen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen müssten über die Honorarverteilungsmaßstäbe gegensteuern.
Der GKV-Spitzenverband hatte in den Honorarverhandlungen für das Jahr 2018 nach Angaben der KBV eine Nullrunde verlangt. Die KBV hatte eine Anhebung des Orientierungswertes von 2,4 Prozent gefordert und dies vor allem mit den gestiegenen Praxiskosten, insbesondere Personalkosten, begründet. Außerdem hatte sie mehrere Maßnahmen vorgeschlagen, um die haus- und fachärztliche Versorgung gezielt zu fördern. „Selbst einen Multimorbiditätszuschlag für Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen und die längst überfällige Nachbesserung am Chronikerzuschlag haben die Kassen kategorisch abgelehnt“, kritisierte der Vize-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister.
KBV-Vorstand: Haltung der Kassen ist irrational
Gassen und Hofmeister übten scharfe Kritik an der „irrationalen und rigiden“ Haltung des GKV-Spitzenverbandes. Es sei schon erstaunlich, mit welcher Ignoranz die Kassenvertreter die Argumente der Ärzteseite vom Tisch geschoben hätten. „Da können wir uns die Verhandlungen auch sparen“, kritisierte Gassen. Vor diesem Hintergrund plädierten beide dafür, Honorarabschlüsse wieder mit Kassenverbänden tätigen zu können. Diese hätten häufig eine größere Versorgungsnähe und seien stärker bereit, in die Versorgung ihrer Patienten zu investieren. „Wir halten es für dringend notwendig, dass der Gesetzgeber hier nachschärft“, sagte Gassen.
Die fortgesetzte restriktive Blockadehaltung des GKV-Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen bei den Honorarverhandlungen erzwingt nach Überzeugung des Vorsitzenden des Hartmannbundes, Dr. Klaus Reinhardt, eine grundsätzliche Systemdebatte. Das Selbstverständnis des Spitzenverbandes, das im Wesentlichen darin bestehe, sich durch Bereitstellung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung von jeglicher Versorgungsverantwortung zu befreien, gehöre grundsätzlich in Frage gestellt.
Hartmannbund: Morbiditätsrisiko wird bei den Ärzten abgeladen
Solange die Krankenkassen am wirtschaftlichen Risiko durch Demographie, Morbiditätsentwicklung, medizinischen Fortschritt und auch von ihnen im Wettbewerb selbst induzierten Leistungsanspruch der Versicherten nicht unmittelbar wirklich angemessen beteiligt seien, werde es ihrerseits zu keiner wirklichen Verantwortungsübernahme im Rahmen einer sinnvoll organisierten Patientenversorgung kommen. Es trage am Ende Züge von Perfidie, wenn die Kassen im Wettbewerb um Kunden immer mehr Leistungsversprechen aus dem Hut zauberten, deren Kosten dann bei den Leistungserbringern kompensiert würden. Damit werde das Morbiditätsrisiko unverändert bei den Ärzten abgeladen.
Reinhardt: „Wir müssen deshalb – nicht nur mit Blick auf die Notfallversorgung – unseren Druck auf die Politik erhöhen, intelligente Maßnahmen zur Steuerung der Inanspruchnahme von Leistungen im Gesundheitswesen gesetzgeberisch zu implementieren.“ Darüber hinaus müsse durch die ärztliche Selbstverwaltung das Ziel fester Preise für klar definierte ärztliche Leistungen konsequent verfolgt werden.
NAV: Nicht einmal Inflationsausgleich
„Dieser Honorarabschluss ist eine Nullnummer“, kritisierte auch der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Dirk Heinrich. Damit würden die Praxisärzte von der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung abgekoppelt. Angesichts von Tarifsteigerungen in den Krankenhäusern, in der Pflege oder bei den Medizinischen Fachangestellten blieben niedergelassene Ärzte weit dahinter zurück. „Der Investitionsstau und der Personalabbau, den das Statistische Bundesamt kürzlich bei niedergelassenen Ärzten festgestellt hat, wird also weitergehen. Keine guten Vorzeichen für die ambulante Versorgung“, stellt Dr. Heinrich fest. „Trotz Überschüssen der Krankenkassen von 17,5 Milliarden Euro wird mit einem Honorarplus von 1,18 Prozent noch nicht einmal der Inflationsausgleich von 1,9 Prozent erreicht“, bemängelte er.
Eine neue Bundesregierung müsse daher dringend den gesetzlichen Ablauf der Honorarverhandlungen prüfen. „Und eine weitere wichtige Aufgabe einer neuen Bundesregierung ist die Beendigung der Budgetierung. Als Einstieg dazu müssen zunächst alle Leistungen der haus- und fachärztlichen Grundversorgung aus der Budgetierung herausgenommen werden. Nur so lässt sich der bestehende Investitionsstau in den Praxen abbauen und der Beruf des Praxisarztes in selbstständiger oder angestellter Form erhalten“, so Heinrich.
Quellen: KBV, Hartmannbund, NAV