Speyer – Nur eine klare Richtungsänderung kann eine Verschlechterung der ambulanten Versorgung abwenden. Denn seit Jahren hakt es bei der Weiterbildung, der Vergütung und der Wertschätzung für die konservative Orthopädie und Unfallchirurgie.
Gäbe es eine Liste mit bedrohten Therapiearten, wären dort die Verfahren der konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie gelistet. Dabei sind eine gründliche körperliche Untersuchung, die konservative Behandlung eines Knochenbruchs, Orthopädietechnik und Manuelle Medizin nach wie vor zentrale Behandlungsinstrumente unseres Faches und keineswegs überholt oder gar ausgestorben, um im Bild zu bleiben.
Orthopäden und Unfallchirurgen sind nicht nur Techniker. Unser Fach lebt vom ärztlichen Gespräch und der manuellen Therapie. Allerdings hakt es seit Jahren bei der Weiterbildung, der Vergütung und der Wertschätzung konservativer Inhalte. Die Veröffentlichung des „Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie“ hat das Problem vor zwei Jahren formuliert und ein Umdenken gefordert (1). Allerdings ohne nachhaltigen Erfolg. Deshalb muss das Thema dringend wieder auf die Agenda. Wir brauchen eine Stärkung der konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie. Ein „Weiter so“ wird sonst schon sehr bald zu einer schlechteren ambulanten Versorgung führen.
Warum sind die konservativen Inhalte so wichtig? Hierzulande werden jedes Jahr rund 37 Millionen Menschen wegen muskuloskelettaler Beschwerden ambulant behandelt (2), 1,8 Millionen Patienten werden wegen dieser Beschwerden stationär versorgt (3). 650.000 Patienten machen wegen muskuloskelettaler Beschwerden eine Reha. Operiert werden also nur fünf Prozent.
35,2 Millionen Patienten mit muskuloskelettalen Beschwerden werden konservativ behandelt. Mit einer Schmerztherapie, mit Injektionsverfahren, mit Manueller Medizin, Chirotherapie, Osteopathie, mit Gips- oder Verbandtechniken, mit Akupunktur, Extrakorporaler Stoßwellentherapie, technischer Orthopädie, Psychosomatik oder Naturheilkunde und mit den von Physiotherapeuten erbrachten Physiotherapien.
Warum sind die konservativen Verfahren bedroht? Weil sie nicht angemessen vergütet werden und weil die Weiterbildung von Kliniken erbracht wird, die de facto kaum noch konservativ behandeln, da ihnen die Verfahren im Rahmen der Fallpauschalen nicht vergütet werden.
Viele konservative Therapien können auch nur im ambulanten Bereich vermittelt und eingeübt werden, weil die Patienten mit den entsprechenden Krankheitsbildern gar nicht oder nur selten stationär aufgenommen werden. Zum Beispiel Patienten mit Weichteilproblemen an Schultern und Armen. Je weniger Kollegen aber das volle Spektrum an konservativer Orthopädie und Unfallchirurgie beherrschen, desto weniger Kollegen stehen auch für die Weiterbildung zur Verfügung. Mangel zieht weiteren Mangel nach sich. Ein Teufelskreis.
Hinzu kommt, dass sich Fachärzte nur von entsprechend qualifizierten Fachärzten vertreten lassen können. Das heißt im Klartext, dass derjenige, der weitergebildet wird, nie ohne denjenigen, der ihn weiterbildet, behandeln darf. Die beiden Fachärzte müssen also immer zusammen behandeln. Für niedergelassene Fachärzte ist das eine große Belastung, zumal die Weiterbildung nicht angemessen vergütet wird. Deshalb beteiligen sich auch so wenig orthopädische und unfallchirurgische Praxen an der Weiterbildung.
Am Ende gilt deshalb: Wer in der Klinik nur operieren gelernt hat, weil den Kliniken im Wesentlichen nur Operationen vergütet werden, kann und wird auch nur operieren.
Die Marginalisierung der konservativen Orthopädie lässt sich auch an handfesten Zahlen festmachen. Erhoben wurden sie vom BVOU unter dessen Präsidenten Johannes Flechtenmacher und der AOK Baden-Württemberg. Es sind Zahlen zur Versorgungsrealität bei Hüftgelenk-Arthrose (4). In Deutschland werden jedes Jahr knapp 300 künstliche Hüftgelenke pro 100.000 Einwohner implantiert (5). Nach den von Flechtenmacher und seinen Kollegen erhobenen Zahlen wird jeder achte Patient mit einer Hüftgelenk-Arthrose bereits im ersten Jahr nach der Diagnose operiert.
Dabei fordern die Leitlinien für den Kniegelenkersatz – es gibt keine eigene Leitlinie für die Indikation zum Hüftgelenkersatz –, dass eine konservative Therapie erst gescheitert sein muss, bevor die Entscheidung zur Operation gefällt werden kann (6). Zwar wird dort nur maximal ein halbes Jahr konservative Therapie gefordert, aber viele gelenkerhaltenden Maßnahmen brauchen Zeit. Nicht immer kann bereits nach einem halben Jahr schon vom Scheitern einer konservativen Therapie gesprochen werden.
Bei Patienten mit einer Hüftgelenk-Arthrose, die erst einige Jahre nach der Diagnose operiert wurden, zeigte sich zudem, dass es in den ein bis zwei Jahren vor der Operation überhaupt keine fachärztliche Versorgung mehr gegeben hat. Den Patienten wurden in dieser Zeit auch kaum noch Heilmittel verordnet. Ob das mit den geringen Budgets für Heilmittel zu tun hat oder damit, dass viele Kollegen den Eindruck haben, dass man mit einer konservativen Therapie zu diesem Zeitpunkt nichts mehr erreichen kann, können die Zahlen nicht beantworten. Allerdings sollten die Gründe ermittelt und hinterfragt werden.
Auch im ambulanten Bereich werden die konservativen Verfahren nicht angemessen honoriert. Die ambulante Behandlung wird pro Quartal – nicht pro Besuch in der Praxis – mit rund 50 bis 55€ vergütet, je nach Kassenärztlicher Vereinigung. Pro Quartal können niedergelassene Orthopäden und Unfallchirurgen noch im Durchschnitt Medikamente für circa 15€ pro Patient verordnen und Physiotherapie für etwa 30€ pro Patient. Eine anspruchsvolle gelenkerhaltende Therapie, lässt sich mit diesen Honoraren nicht realisieren.
Muskuloskelettale Beschwerden haben viel mit Übergewicht, Bewegungsmangel und Fehlhaltungen zu tun. Daher sollte viel Zeit in das ärztliche Gespräch fließen, in dem die Patienten über Gewichtsreduktion, Ernährung und Bewegung informiert werden.
Eine Stärkung der konservativen Orthopädie wird nicht ohne Ruck und Richtungsänderung gehen:
- Wir brauchen Ausbildungskliniken mit konservativen Schwerpunkten und Weiterbildungsverbünde zwischen Kliniken und Praxen, die angemessen finanziert werden.
- Wir brauchen eine größere Wertschätzung für die konservativen Inhalte, auch in unserem eigenen Fach. Wer konservativ behandelt, ist kein Orthopäde oder Unfallchirurg zweiter Klasse.
- Wir brauchen eine bessere Vergütung der erbrachten Leistungen. Zum Preis eines gehobenen Haarschnitts lässt sich keine zielführende gelenkerhaltende Therapie durchführen.
- Die konservativen Verfahren müssen nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin weiterentwickelt werden. Dazu wäre ein Lehrstuhl für konservative Orthopädie und Unfallchirurgie hilfreich.
- Wir brauchen auch eine bessere Zusammenarbeit mit den angrenzenden Berufen wie Physiotherapeuten, Osteopathen und Sportwissenschaftlern. Die Diagnose und Therapiehoheit müssen allerdings immer beim Arzt bleiben.
Was passieren muss, damit auch zukünftig eine gute ambulante Versorgung gewährleistet werden kann, wurde 2017 im Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie (1) formuliert:
10 Forderungen zur Zukunft der konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie
- Die konservative Orthopädie und Unfallchirurgie (O und U) muss in allen Bereichen gestärkt werden.
- Es muss sichergestellt werden, dass die konservativen Behandlungsinhalte allen Patienten zur Verfügung stehen, die davon profitieren – auch in operativ ausgerichteten Kliniken.
- O und U müssen adäquate Therapiealternativen anbieten, die sich nicht an wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Versorgung orientieren. Vor einer Operation sollten die konservativen Behandlungsmöglichkeiten leitliniengerecht ausgeschöpft worden sein. Die dazu notwendige Finanzierung ist sicherzustellen. Das Zweitmeinungsverfahren muss sozialrechtlich und qualitätsgesichert verankert werden.
- Die Vernetzung zwischen den Sektoren sollte im Sinne der Patientensicherheit und der Qualitätssicherung vorangetrieben werden.
- Die Weiterbildung in den konservativen Verfahren der O und U muss in der Muster-Weiterbildungsordnung adäquat abgebildet sein. Für die Zusatzweiterbildung Orthopädische Rheumatologie muss stärker geworben werden. Kenntnisse in psychosomatischer Grundversorgung und psychosoziale Kompetenzen gehören untrennbar zum Fach. Alle Weiterzubildenden müssen die Inhalte des gesamten Fachs im ambulanten Bereich und in den Kliniken der Akutversorgung und der Rehabilitation erlernen können. Die Weiterbildung muss ausreichend finanziert werden.
- Grundlagen- wie Versorgungsforschung in der konservativen O und U müssen gestärkt werden. Die Universitäten müssen dafür größere Anstrengungen unternehmen und beispielsweise Lehrstühle für konservative O und U einrichten.
- Für die Prävention von Krankheiten in O und U spielen konservative Inhalte eine große Rolle. Zukunftsweisende Präventionskonzepte müssen weiter erforscht und gefördert werden. Diese Arbeit darf das Fach O und U nicht anderen Fachgebieten überlassen, sondern muss sich daran beteiligen.
- Die interdisziplinäre Kooperation mit nichtärztlichen Gesundheitsberufen ist in den einzelnen Sektoren und beim Einsatz multimodaler Behandlungskonzepte unverzichtbar. Genauso unverzichtbar ist allerdings auch der Primat ärztlicher Indikationsstellung, Diagnostik und Behandlungsführung. Die Gesamtverantwortung liegt beim Arzt.
- Die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe wird unterstützt. Sie sollte allerdings nicht zu einem sogenannten Direktzugang führen, also der Möglichkeit, ohne Überweisung eines Orthopäden oder Unfallchirurgen einen Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten aufzusuchen. Bei anstehenden Modellversuchen wie der Blankoverordnung, bei der Auswahl, Dauer und Abfolge einer Therapie eigenverantwortlich von Physiotherapeuten festgelegt werden, müssen sich Schnittstellen und Budgetverantwortlichkeiten an der Patientensicherheit und der notwendigen Qualität orientieren. Die ärztliche Gesamtverantwortung muss erhalten bleiben.
- Ärztliche Osteopathie und osteopathische Verfahren gehören als Erweiterungen der Manuellen Medizin zur konservativen O und U. In diesem Bereich hat sich zudem die Delegation an entsprechend qualifizierte Physiotherapeuten bewährt. Diese Delegation sollte weiterentwickelt werden.
Dr. Thomas Möller, DKOU-Kongresspräsident 2019
Literatur:
(1) Psczolla et al. Weissbuch konservative Orthopädie und Unfallchirurgie. 2017. De Gruyter ISBN 978-3-11-053433-7
(2) https://www.kbv.de/html/2016_24723.php
(3) Statistisches Bundesamt. Diagnosedaten der Patientinnen und Patienten im Krankenhaus.
(4) Endres H. el al. Koxarthrose – Epidemiologie und Versorgungsrealität – Versorgungsdatenanalyse von 2,4 Millionen Versicherten der AOK Baden-Württemberg ab 40 Jahren. Z Orthop Unfall 2018; 156:672-684.
(5) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/182669/umfrage/hueftgelenksoperationen-in-ausgewaehlten-oecd-laendern/
(6) https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/033-052p_S2k_Knieendoprothese_2018-04.pdf