Komplexe Erkrankungen des Bewegungssystems wie beispielsweise degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen, komplexe Funktions- und Bewegungsstörungen, chronische Schmerzerkrankungen, rheumatische Erkrankungen oder auch Stoffwechselerkrankungen mit Störungen im Bewegungssystem sind in der Regel multifaktoriell bedingt. Dementsprechend benötigen diese komplexen Erkrankungen eine interdisziplinäre Diagnostik und – bei hoher Krankheitsintensität – eine akutmedizinische multimodale Komplexbehandlung.
Für eine befund- und mechanismengerechte Diagnostik und die Behandlung multifaktoriell bedingter Erkrankungen des Bewegungssystems wurde vor nunmehr 21 Jahren das ANOA-Konzept entwickelt. Das Konzept, zuletzt im Jahr 2020 erfolgreich überarbeitet, gilt mittlerweile als der Goldstandard in der Therapie chronischer Rückenschmerzen. Es verbindet orthopädische, manualmedizinisch-funktionelle, physiotherapeutische, psychotherapeutische sowie schmerzmedizinische Diagnostik- und Behandlungsansätze.
Über die ANOA
Die ANOA (Arbeitsgemeinschaft nichtoperativer orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken) ist eine bundesweit tätige medizinisch-wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft von aktuell 32 Akutkrankenhäusern, die multifaktorielle Erkrankungen des Bewegungssystems nichtoperativ orthopädisch-unfallchirurgisch, manualmedizinisch, schmerzmedizinisch und rheumatologisch behandeln. Die Kliniken haben sich auf interdisziplinäre Komplexbehandlungen multifaktorieller Struktur-, Funktions- und Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems mit hoher Krankheitsintensität spezialisiert und zeichnen sich bei der akutmedizinischen Versorgung im Krankenhaus durch die Verbindung von Standardisierung und Individualisierung aus.
Die ANOA ist der Auffassung, dass nur im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung eine nachhaltig wirksame Behandlungsstrategie erarbeitet werden kann. Kliniken im ANOA-Verbund verpflichten sich, Behandlungen nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen durchzuführen und fortlaufend qualitätsgesichert zu evaluieren.
ANOA-Konzept 2.0: Drei Grunderkrankungsformen im Fokus
Die ANOA geht davon aus, dass diese komplexen Erkrankungen des Bewegungssystems subgruppenspezifisch in klinischen Behandlungspfaden mit befundgerechter Individualisierung behandelt werden sollten:
- In der Gruppe der Struktur- und Funktionserkrankungen des Bewegungssystems sind morphologische Befunde und komplexe Funktionsstörungen Hauptfaktoren der Erkrankung. Struktur- und Funktionsstörungen müssen deshalb im Mittelpunkt der Behandlung stehen. Komorbidität, psychische und psychosoziale Faktoren haben häufig einen zusätzlichen Einfluss im Krankheitsgeschehen und müssen diagnostiziert und mitbehandelt werden.
- Bei chronischen Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems handelt es sich in der Regel um ein komplexes Bedingungsgefüge aus morphologisch-strukturell bedingten Störungen, komplexen Funktionsstörungen, somatischer und psychischer Komorbidität und anderen psychischen Einflussfaktoren, häufig verbunden mit schmerzrelevanten psychosozialen Kontextbedingungen und ausgeprägten Chronifizierungsprozessen. Patienten mit diesen Störungen benötigen eine auf die Behandlung des Bewegungssystems abgestimmte, interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie mit individueller Schwerpunktsetzung.
- Rheumatische Erkrankungen mit hoher Krankheitsintensität führen häufig zu komplexen Struktur- und Funktionsstörungen des Bewegungssystems. Bei dieser Gruppe stehen rheumatisch bedingte Struktur- und Funktionsstörungen im Mittelpunkt der Komplexbehandlung. Auch hier müssen Komorbidität, psychische und psychosoziale Einflussfaktoren mit berücksichtigt werden.
Diagnostik, Verlaufsdiagnostik und Behandlung bilden eine Einheit. Die Erreichung therapeutischer Zielstellungen und die akutmedizinische Behandlungsnotwendigkeit werden während der Komplexbehandlung fortlaufend evaluiert. Die Behandlung erfolgt multimodal im interdisziplinären therapeutischen Team unter ärztlicher Leitung.
Wesentlicher Bestandteil des Konzeptes ist das System der Klinischen Behandlungspfade. Bei der Überarbeitung des Konzeptes 2.0 wurden diese ANOA-spezifischen Pfade multimodaler nichtoperativer Komplexbehandlungen des Bewegungssystems verschlankt und die spezifischen Grunderkrankungsformen in den Fokus gerückt: die Behandlung strukturell- funktioneller Erkrankungen des Bewegungssystems (OPS 8-977), die chronischen Schmerzstörungen mit somatischen und psychischen Faktoren (OPS 8-918) und rheumatologische Komplexerkrankungen (OPS 8-983).
Jeder Behandlungspfad bildet eine subgruppenspezifische Methodenkombination mit definierter Behandlungsintensität und Behandlungsdauer ab. Die Behandlung ergibt sich durch eine befundgerechte Individualisierung auf der Grundlage des strukturierten klinischen Pfades.
Individuelle patientenbezogene Diagnostik
Das diagnostische Konzept der ANOA ist individuell patientenbezogen ausgerichtet und wird mit wissenschaftlich evaluierten Assessments durchgeführt. Die Diagnostik erfolgt in den Bereichen der Morphologie, der Funktionsstörungen, der Psyche und der Schmerzchronifizierung. Psychosoziale Faktoren werden mitberücksichtigt. Die in der Diagnostik erhobenen Befunde werden interdisziplinär betrachtet und in ihrem Einfluss auf das Krankheitsgeschehen bewertet. Diagnosen, therapeutische Zielstellungen und Behandlungsstrategien werden interdisziplinär erarbeitet.
Die gezielte Anwendung mehrerer diagnostischer Verfahren erfolgt durch ein interdisziplinäres Team unter Nutzung schmerztherapeutischer Assessments, klinischer und apparativer Methoden. Schwerpunkte sind:
- Neuroorthopädische Strukturdiagnostik
- Manualmedizinische Funktionsdiagnostik
- Psychodiagnostik
- Schmerzdiagnostik
- Apparativ gestützte Diagnostik unter funktionspathologischen Aspekten
Die erhobenen Befunde werden interdisziplinär in einer Teambesprechung hinsichtlich ihrer Relevanz für die vorliegende Erkrankung bewertet und bilden damit die Grundlage der Therapie.
Vielfältige therapeutische Methoden
Das Konzept der ANOA ist befundorientiert, multimodal und interdisziplinär. Die Zielstellung der Behandlung ist individuell patientenzentriert. Dazu erfolgt die gezielte und strukturierte Anwendung therapeutischer Verfahren mit kontinuierlicher interdisziplinärer Evaluation und Therapieanpassung.
Therapeutische Verfahren aus folgenden Fachgebieten kommen zur Anwendung: Orthopädie und Unfallchirurgie, Manuelle Medizin, Schmerzmedizin, Rheumatologie, Naturheilverfahren, Psychotherapie, Pflege, Physiotherapie sowie Trainingstherapie
Die Behandlung erfolgt im Rahmen nachstehend genannter klinischen Pfade, welche jeweils spezifische Kombinationen therapeutischer Methoden beinhalten und unterschiedliche therapeutische Schwerpunkte und Zielsetzungen berücksichtigen, die befundgerecht individualisiert werden:
- Multimodal-nichtoperative Komplexbehandlung des Bewegungssystems (OPS 8-977)
- Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (OPS 8-918)
- Multimodale rheumatologische Komplexbehandlung (OPS 8-983)
Die Behandlungspfade beinhalten jeweils spezifische Kombinationen therapeutischer Methoden und berücksichtigen unterschiedliche therapeutische Schwerpunkte sowie Zielsetzungen, die befundgerecht individualisiert werden.
Qualitätssicherung und wissenschaftliche Evaluation: Garanten für den Therapieerfolg
Über eine Symptomlinderung hinaus verfolgt das ANOA-Konzept auch die Entwicklung langfristig wirksamer Behandlungsstrategien. Dabei werden sowohl patientenbezogene Ressourcen als auch Handlungskompetenzen gefördert – mit dem übergeordneten Ziel, Patienten in ihrer Eigenverantwortung zu stärken.
Im Jahr 2016 hat die ANOA in Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Zertifizierungsinstitut ClarCert in Ulm das Qualitätsicherungs- und Zertifizierungssystem ANOACert für Kliniken entwickelt, die Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems nichtoperativmultimodal komplex behandeln. Dieses Qualitätssiegel wurde im Jahresverlauf 2020 entsprechend aktualisiert und wird seitdem vom Ulmer Instititut ClarCert zur Anwendung gebracht.
Ergänzend hierzu werden die Behandlungen nach dem ANOA-Konzept in wissenschaftlichen Studien und in Zusammenarbeit mit medizinischen Fachgesellschaften sowie universitären Einrichtungen wissenschaftlich evaluiert. Dabei lieferte den ersten relevanten wissenschaftlichen Nachweis zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des Vorgehens innerhalb des ANOA-Konzeptes bereits 2014 / 2015 die Multicenterstudie.
350.000 Patienten seit 2002 behandelt
Im Laufe der Jahre wurden mehr als 350.000 Patientinnen und Patienten mit akuten und chronifizierten Erkrankungen des Bewegungssystems in ANOA-Kliniken orthopädisch – konservativ, interdisziplinär und multimodal komplex behandelt. Oft mit nachhaltig wirksamer Schmerzreduktion und Verbesserungen der Lebensqualität. Auch für die Zukunft sieht sich die ANOA – mit dem überarbeiteten ANOA-Konzept und der Neustrukturierung des Qualitätssicherungssystems ANOACert – für die Bedürfnisse der Patienten gut aufgestellt. Die Nachfrage nach einer Behandlung ist groß, einige Kliniken führen derzeit Wartelisten.
Dr. Jan Holger Holtschmit (Präsident der ANOA, Orthopäde und Chefarzt am Marienhaus Klinikum St. Wendel-Ottweiler