Oberwesel – Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems sind häufig multifaktoriell bedingt und werden in ihrem Verlauf von vielfältigen Faktoren beeinflusst. Bei hoher Komplexität, anhaltend starker Beeinträchtigung oder hoher Krankheitsintensität stoßen ambulante Behandlungsoptionen häufig an Grenzen. In diesem Fall können interdisziplinäre stationäre Behandlungskonzepte wirksam werden, die in der Regel über erweiterte diagnostische Möglichkeiten verfügen und interdisziplinäre multimodale Behandlungsansätze anbieten.
Die klinische Praxis zeigt allerdings, dass es bei multifaktoriell bedingten Schmerzstörungen ohne „Red Flag“-Symptomen keine harten Kriterien gibt, welche Patientinnen und Patienten eine stationäre Diagnostik und Behandlung ihrer zumeist chronischen Schmerzen benötigen. Zudem besteht die Verpflichtung zu prüfen, ob das Behandlungsziel nicht auch durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann, so § 39 SGB V.
Die Empfehlung zur stationären Schmerzbehandlung sollte durch ambulante Ärztinnen und Ärzte erfolgen, die ihre Patientinnen und Patienten gut kennen und den individuellen Verlauf der Erkrankung nachvollziehen können. So ist eine stationäre Behandlung sinnvoll bei Patientinnen und Patienten mit unklaren Befundkonstellationen, somatischen oder psychischen Komorbiditäten oder nach erfolgloser konservativer, interventioneller oder operativer Therapie. Hier besteht die Notwendigkeit einer erweiterten interdisziplinären Diagnostik, einschließlich Verlaufsdiagnostik und komplexer multimodaler Behandlung, was unter ambulanten Bedingungen in der notwendigen Therapiedichte und Methodenkombination häufig nicht möglich ist. Ein weiteres wichtiges Kriterium ergibt sich bei signifikanter Beeinträchtigung der Alltagsfunktionalität, Lebensqualität oder Arbeitsfähigkeit oder bei ambulant nicht mehr beherrschbaren Schmerzexazerbationen. Die Notwendigkeit des Einsatzes der besonderen Mittel des Krankenhauses, insbesondere kontinuierliche ärztliche und pflegerische Behandlung muss erfüllt sein. Das wiederum muss bei stationärer Aufnahme genau geprüft werden und ist ein wichtiges Kriterium in Abgrenzung zu rehabilitativen Behandlungsansätzen.
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Drei klinische Behandlungspfade nach dem ANOA-Konzept
Die Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken (ANOA e.V.) bietet in ihrem Behandlungskonzept ANOA 2.0 einen Zugang zu einer erweiterten interdisziplinären Diagnostik und einer Behandlung in indikationsspezifischen klinischen Pfaden. Zielgruppe für alle Komplexbehandlungen sind Patienten mit multifaktoriell bedingten muskuloskelettalen Schmerzen. Die ANOA Pfade orientieren sich an den OPS-spezifischen Prozeduren für stationäre Komplexbehandlungen und umfassen jeweils unterschiedliche Diagnostik- und Therapieschwerpunkte unter besonderer Berücksichtigung funktionspathologischer Befunde des Bewegungssystems. Jeder Behandlungspfad bildet eine subgruppenspezifische Methodenkombination mit definierter Behandlungsintensität und Behandlungsdauer ab. Die Behandlung ergibt sich durch eine befundgerechte Individualisierung auf der Grundlage des strukturierten klinischen Pfades.
- Multimodal-nichtoperative Komplexbehandlung des Bewegungssystems (OPS 8-977)
In der Gruppe der Struktur- und Funktionserkrankungen des Bewegungssystems sind morphologische Befunde und komplexe Funktionsstörungen Hauptfaktoren der Erkrankung. Struktur- und Funktionsstörungen müssen deshalb im Mittelpunkt der Behandlung stehen. Komorbidität, psychische und psychosoziale Faktoren haben häufig einen zusätzlichen Einfluss im Krankheitsgeschehen und müssen diagnostiziert und mitbehandelt werden.
- Multimodale Schmerztherapie (OPS 8-918)
Bei chronischen Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems handelt es sich in der Regel um ein komplexes Bedingungsgefüge aus morphologisch-strukturell bedingten Störungen, komplexen Funktionsstörungen, somatischer und psychischer Komorbidität und anderen psychischen Einflussfaktoren, häufig verbunden mit schmerzrelevanten psychosozialen Kontextbedingungen und ausgeprägten Chronifizierungsprozessen. Patienten mit diesen Störungen benötigen eine auf die Behandlung des Bewegungssystems abgestimmte, interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie mit individueller Schwerpunktsetzung.
- Multimodale rheumatologische Komplexbehandlung (OPS 8-983)
Rheumatische Erkrankungen mit hoher Krankheitsintensität führen häufig zu komplexen Struktur- und Funktionsstörungen des Bewegungssystems. Diese Störungen stehen im Mittelpunkt der rheumatologischen Komplexbehandlung. Auch hier müssen Komorbidität, psychische und psychosoziale Einflussfaktoren mit berücksichtigt werden.
Diagnostik, Verlaufsdiagnostik und Behandlung bilden eine Einheit. Das Erreichen therapeutischer Zielstellungen und die akutmedizinische Behandlungsnotwendigkeit werden während der Komplexbehandlung fortlaufend evaluiert. Die Behandlung erfolgt multimodal im interdisziplinären therapeutischen Team unter ärztlicher Leitung. Die Anwendung des ANOA-Konzeptes lässt klinikspezifische Schwerpunktsetzungen zu.
Welches Konzept passt zu welchem Patienten?
Während sich die Indikation zur rheumatologischen Komplexbehandlung in der Regel recht klar aus der zugrundeliegenden Erkrankung ergibt, ist die Unterscheidung zwischen den beiden anderen Komplexbehandlungen schwieriger.
So steht die multimodale Schmerztherapie neben Patienten mit muskuloskelettalen Schmerzen auch Patienten mit anderen Schmerzerkrankungen wie Kopf- und Gesichtsschmerzen oder CRPS offen. Indiziert ist die Behandlung vor allem bei hoch chronifizierten Schmerzsyndromen und erheblicher Komorbidität. Dabei können sowohl psychische als auch schwere somatische Komorbiditäten eine Rolle spielen.
Demgegenüber steht die Multimodal-nichtoperative Komplexbehandlung des Bewegungssystems. Diese ist indiziert, wenn bei der Schmerzerkrankung die strukturell-morphologischen oder funktionspathologischen Befunde des Bewegungssystems Hauptfaktoren der Schmerzstörung sind und damit Schwerpunkt der Behandlung sein sollten.
Die Abgrenzung beider Komplexbehandlungen kann im Einzelfall schwierig sein, da auch in der multimodal-nichtoperativen Komplexbehandlung des Bewegungssystems Patientinnen und Patienten behandelt werden, die nicht nur akute, sondern auch chronifizierungsgefährdete und chronische Schmerzen aufweisen.
Beide Komplexbehandlungen greifen relevante psychische oder psychosoziale Einflussfaktoren der Schmerzstörung auf. Sie unterscheiden sich jedoch in Aufwand und Intensität der schmerzpsychotherapeutischen Behandlungsanteile. In der Patientengruppe mit Struktur- und Funktionserkrankungen (ANOA Pfad 1 – OPS 8-977) finden sich häufig Patientinnen und Patienten mit Störungen der Entspannungsfähigkeit, mit chronischem Bewegungsmangel, psychosozialem Stress oder dysfunktionalem Schmerzverhalten. Diese Faktoren beeinflussen als Yellow Flags der Chronifizierungsgefährdung die vorliegenden strukturellen und funktionspathologischen Befunde. Im ANOA-Pfad 1 – Anwendung des OPS 8-977 werden sie über Informationen zur Entstehung und zum Umgang mit Schmerz, mit Psychoedukation zur Schmerz- und Stressbewältigung und durch die Anwendung von Entspannungsverfahren mitbehandelt.
Im ANOA-Pfad 2, Anwendung des OPS 8-918 (Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie), weisen Patientinnen und Patienten in der Regel psychische oder psychosoziale Einflussfaktoren auf, die im Zusammenwirken mit somatischen (strukturellen und funktionellen) Befunden zu einem komplexen Bedingungsgefüge der Schmerzstörung geworden sind. Hier finden sich „Yellows flags“ in bereits verfestigtem dysfunktionalem Einfluss, häufig in Kombination mit ausgeprägter Angst vor Schmerz und anhaltender Vermeidung potentiell schmerzauslösender Bewegung und Belastung (vgl. Fear Avoidance Modell chronischer Rückenschmerzen), aber auch schmerzrelevante psychische Komorbiditäten wie Angststörungen, depressive Störungen oder Persönlichkeitsstörungen mit Somatisierungsanteilen. Auch hier bilden Psychoedukation und Entspannung einen Zugang zu der Problematik, werden aber erweitert durch schmerzpsychotherapeutische Kleingruppenarbeit und psychotherapeutischen Einzelgesprächen. Dabei geht es häufig nicht um die Aufarbeitung komplexer psychischer Störungsmuster, sondern um die grundlegende Erfahrung einer hilfreich erlebten therapeutischen Beziehung, die den Zugang zu schmerzrelevanten Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen ermöglicht.
Die Aufnahme der rheumatologischen Komplexbehandlung in das ANOA-Konzept 2.0
Die Orthopädische Rheumatologie erfährt in den letzten Jahren eine richtungsweisende Neuorientierung. Traditionellerweise werden in Deutschland unter dem Begriff Rheumatologie die entzündlich rheumatischen Erkrankungen, insbesondere der Gelenke zusammengefasst. Neben den entzündlichen Gelenkerkrankungen rücken auch die degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparates und die Funktionserkrankungen zunehmend in den Blickpunkt. Die sich in den jeweiligen Landes-Ärztekammern in Umsetzung befindliche Zusatz-Weiterbildung „Orthopädische Rheumatologie“ trägt dem Rechnung. Neben den operativen Inhalten spielen nun auch Aspekte aus der speziellen Schmerztherapie, der Physikalischen Therapie und Balneologie, der Manuellen Medizin, der Osteologie, der Rehabilitationsmedizin und der Technischen Orthopädie eine große Rolle. Für Orthopäden ergibt sich dabei eine große Chance, in der Rheumatologie wieder mehr Fuß zu fassen. Wenn bei Patienten mit rheumatologischen Erkrankungen eine hohe Krankheitsintensität vorliegt und das ambulante Setting an seine Grenzen stößt, besteht die Möglichkeit zur stationären multimodalen rheumatologischen Komplexbehandlung. Die Behandlungsleitung findet durch einen Facharzt statt, der einen rheumatologischen Schwerpunkt bzw. die neue Zusatzweiterbildung „Orthopädische Rheumatologie“ besitzt.
Während multidisziplinär bedeutet, dass Ärzte und Therapeuten zwar am Problem desselben Patienten arbeiten, sich jedoch nicht engmaschig untereinander bezüglich ihres Behandlungskonzeptes abstimmen, bedeutet multimodal, dass ein Team verschiedener Fachrichtungen nach einem abgestimmten Behandlungskonzept mit einer einheitlichen Zielrichtung in enger Abstimmung arbeitet. Dazu ist ein prozessorientiertes Behandlungsmanagement mit standardisierter Befunderhebung erforderlich. Der therapeutische Input ist hoch. Es müssen mindestens elf Stunden Therapie pro Woche durchgeführt werden. Dazu müssen mindestens drei verschiedene Therapiebereiche aus der Krankengymnastik, der physikalische Therapie, der Ergotherapie, der Schmerztherapie, der Psychotherapie und der Verhaltenstherapie so angesetzt sein, dass sie den individuellen Bedürfnissen des jeweiligen Patienten gerecht wird. Um die Krankheitsintensität beurteilen zu können, werden je nach rheumatologischer Grunderkrankung verschiedene Beurteilungsinstrumente eingesetzt, wie zum Beispiel DAS-28 (Disease Activity Score 28) oder der BASDAI (Bath Ankylosing Spondylitis Diseases Activity Index). Unterteilt ist dieser OPS in eine Behandlungsdauer von 7-13, 14-20 und mehr als 21 Tage. Mit diesem Instrument der Multimodalen Rheumatologischen Komplexbehandlung steht eine sehr interessante Therapieoption für Patienten mit einer hohen Krankheitsintensität zur Verfügung.
Zusammenfassung:
Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems sind häufig multifaktoriell bedingt und werden in ihrem Verlauf von vielfältigen Faktoren beeinflusst. Bei hoher Komplexität, anhaltend starker Beeinträchtigung oder hoher Krankheitsintensität kommen ambulante Behandlungsoptionen häufig an die Grenzen des Machbaren. In diesem Fall können interdisziplinäre stationäre Behandlungskonzepte wirksam werden. Der Artikel diskutiert multimodale Behandlungsansätze im Krankenhaus, die im ANOA-Konzept akutmedizinischer Komplexbehandlungen für Schmerzstörungen des Bewegungssystems beschrieben sind.
Dr. Jan Holger Holtschmit
Chefarzt Marienkrankenhaus St. Wendel
und Präsident der ANOA
Dr. Jens Adermann
Chefarzt Klinik für Manuelle Therapie Hamm
und 2. Vizepräsident der ANOA
Dipl.-Psych. Wolfgang Ritz
Psychologischer Psychotherapeut Sana Kliniken Sommerfeld
und Schriftführer der ANOA