Losheim – Die 30 Kliniken der Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken (ANOA) behandeln Patienten mit komplexen und multifaktoriellen Erkrankungen des Bewegungssystems sowie mit chronischen Schmerzerkrankungen. Dabei hat der Klinikverbund die Standards der Komplexbehandlung in der nichtoperativen Orthopädie in den vergangenen Jahren stark mitgeprägt: die ANOA hat ein mittlerweile wissenschaftlich anerkanntes Konzept entwickelt, ein Konzeptbuch vorgestellt sowie das Qualitätssiegel ANOA-Cert für Kliniken etabliert.
Seit Ende 2019 wird der Klinikverbund von einem neuen Präsidenten gelenkt: Dr. Jan Holger Holtschmit, Chefarzt Konservative Orthopädie der Marienhausklinik St. Josef Losheim. Wir sprachen zum Anfang des neuen Jahres mit dem Präsidenten über aktuelle Herausforderungen und die Zukunft der nichtoperativen multimodalen Komplexbehandlung in Deutschland.
Herr Dr. Holtschmit, die ANOA hat sich in den vergangenen Jahren zu einer wahren Marke entwickelt. Was macht für Sie die Stärke der ANOA aus?
Holtschmit: Unsere wesentliche Stärke liegt sicherlich darin, dass wir DIE Institution sind, die das Thema multimodale Komplexbehandlung am Bewegungssystem in Deutschland vertritt. Oder anders gesagt: Wir sind schlichtweg der größte Player im Bereich der stationären Schmerztherapie des Bewegungssystems und der multimodalen Komplexbehandlung im Bereich der Orthopädie. Zudem richten wir unsere Aufmerksamkeit auch in Richtung rheumatologischer Komplexbehandlungen, um in Zukunft auch dieses Feld optimal abzudecken. Ein weiterer Pluspunkt der ANOA ist das sehr gute Miteinander innerhalb unserer Fachgesellschaft: Bei uns arbeiten Kollegen aus Kliniken in ganz Deutschland interdisziplinär intensiv zusammen und tauschen sich auf sämtlichen Ebenen offen aus. Innerhalb der ANOA, also in unseren 29 Kliniken, haben wir dank unseres multiprofessionellen Ansatzes auch für unsere Patienten hervorragende personelle Voraussetzungen geschaffen: Wir arbeiten in interdisziplinären Teams aus Orthopäden, Pflegekräften, Physiotherapeuten, Masseuren, Psychotherapeuten eng zusammen – und das nach einem individuell patientenzentrierten Behandlungskonzept.
Das kann in einer primär operativ ausgerichteten Klinikabteilung nicht geleistet werden. Für die nachhaltige Komplexbehandlung am Bewegungssystem ist ein Spezialistenteam unabkömmlich. Und genau das bietet eben die ANOA.
Die Krankenhauslandschaft befindet sich derzeit im Umbruch. Eine Entwicklung, die sicherlich auch die ANOA betrifft. Was sind Problemfelder, mit denen sich Ihr Klinikverbund aktuell konfrontiert sieht?
Holtschmit: Sie sprechen einen wunden Punkt an. Die Problemfelder sind im Moment leider omnipräsent. Besonders ins Gewicht fällt dabei, dass die Bundespolitik die Hürden für kleine Krankenhäuser heraufgeschraubt hat. Da viele ANOA-Häuser zu den kleinen und mittelgroßen Kliniken zählen, ist unser Verbund hiervon unmittelbar betroffen. Konkret gesagt: Das neue Reformgesetz des Medizinischen Dienstes, das am 1. Januar in Kraft getreten ist, hat den Medizinischen Dienst organisatorisch von den Krankenkassen gelöst und soll die Prüfung der Krankenhausabrechnung fortan einheitlicher und transparenter gestalten. Doch welche Auswirkungen dieses Gesetz de facto für die Kliniken haben wird, können wir bislang überhaupt nicht einschätzen. Die vorliegenden Fakten sprechen dafür, dass dieses Gesetz die Versorgung der Bevölkerung mit nichtoperativen Komplexbehandlungen als Alternative zu operativen Behandlungen gefährden kann: So erleben wir aktuell mit der angedrohten Schließung der Kliniken in St. Goar und Oberwesel, wie stark sich die Rahmenbedingungen auf Bundesebene insbesondere für kleinere Häuser verschlechtert haben. Viele müssen urplötzlich um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen, trotz guter Arbeit und guter Auslastung. Ein weiteres Beispiel: zwei Kliniken in Hessen, auf die der Medizinische Dienst derzeit durch urplötzliche Änderungen seiner Abrechnungspraxis enormen Druck ausübt. Auch hier geht es um medizinische Versorgungsangebote und für diese Kliniken um ihre Existenz.
Hinzu kommt die Ausgliederung der Pflegekosten aus dem DRG-System. Was diese schlussendlich für die ANOA-Häuser bedeutet, können wir zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht ausmachen.
Ein weiterer Punkt, der schmerzen wird, ist die Neuregelung der Notfallversorgung im Krankenhaus durch den gemeinsamen Bundesausschuss. Einige der ANOA-Kliniken werden in Zukunft nicht mehr an der Notfallversorgung teilnehmen können, was ebenfalls zu massiven finanziellen Einbußen für die betroffenen Häuser führen wird – und das, obwohl sämtliche Häuser dieselbe hochqualifizierte Leistung erbringen wie eh und je. Doch aufgrund der Neuregelung müssen nun Abschläge gezahlt werden. Insgesamt kommt also eine Flutwelle an potentiellen Belastungen auf uns zu. Eine, die das gesamte Krankenhaus-System in Deutschland erfassen und die Zukunft zahlreicher ANOA-Kliniken und somit auch der nichtoperativen multimodalen Schmerz- und Komplexbehandlung in Deutschland gefährden wird.
Das klingt nach einem äußerst unerfreulichen Szenario, in das Sie sich hier als neuer ANOA-Präsident mit Ihrer Fachgesellschaft begeben. Wie wollen Sie diesen komplexen Herausforderungen als Klinikverbund in naher Zukunft begegnen?
Holtschmit: Richtig, wir sehen uns hier ganz eindeutig mit einem unerfreulichen Szenario konfrontiert. Wir werden uns aber diesen Herausforderungen stellen. Angesichts der aktuellen Gesamtsituation möchte ich jetzt nicht darüber spekulieren, wo wir als ANOA und wo die multimodale stationäre Komplexbehandlung möglicherweise in zehn Jahren stehen. Das käme einem Blick in die Glaskugel gleich. Denn es gibt zudem noch andere Faktoren, die gerade unsere multiprofessionelle Arbeit nicht einfacher machen: Anders als andere Abteilungen im Krankenhaus, arbeiten wir in unseren Kliniken weniger mit hochkomplizierter Technik, sondern in erster Linie mit Manpower. Voraussetzung für die Behandlung nach dem ANOA-Konzept ist – wie bereits erwähnt – das Zusammenwirken eines interdisziplinären Teams. In diesem Kontext macht der aktuelle Pflegenotstand uns das Leben und das Einplanen unserer personellen Kapazitäten natürlich auch nicht leichter.
Doch es nützt natürlich rein gar nichts, die aktuell auf verschiedenen Ebenen unerfreulichen Entwicklungen zu beklagen und die Hände in den Schoß zu legen. Fakt ist: Seit nunmehr 16 Jahren behandeln die Kliniken der ANOA Patienten mit komplexen und multifaktoriellen Erkrankungen des Bewegungssystems sowie mit chronischen Schmerzerkrankungen. Das multidisziplinäre und multimodale Diagnostik- und Therapiekonzept wurde dabei stetig weiterentwickelt und die Erfolge unserer Komplexbehandlung sind mittlerweile durch vielfältige Studien belegt.
Ich sehe es daher als unsere zentrale Aufgabe, der Öffentlichkeit – also vorrangig der Politik, dem Medizinischen Dienst, den Krankenkassen und natürlich auch unseren Patienten – noch stärker vor Augen zu führen, was die ANOA und ihre Kliniken für das Gesundheitssystem und am Patienten leisten. Nochmal: Wir behandeln keine Patienten mit unkomplizierten Rückenschmerzen, denen zumeist mit einer ambulanten Behandlung gut geholfen werden kann. Patienten, die in unsere Akutkliniken kommen, haben in vielen Fällen bereits eine lange Krankenhauskarriere hinter sich. Sie leiden häufig unter massivsten akuten oder chronischen Schmerzen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Einflussfaktoren aufweisen und dadurch weder mit einer normalen Behandlung noch mit einer Operation behoben werden können. Diese Patienten benötigen innovative Behandlungsansätze im Bereich der orthopädischen Komplexbehandlung. Um ihnen nachhaltig zu helfen, brauchen wir in Deutschland das ANOA-Konzept! Heute und in der Zukunft. Denn ANOA bietet erwiesenermaßen Goldstandard in der Therapie von chronischen Rückenschmerzen.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Natascha Kompatzki , Pressebüro ANOA
Über den neuen ANOA-Präsidenten: Dr. Jan Holger Holtschmit (53) war seit 2015 als Vizepräsident für die ANOA tätig. Seit dem 22. November 2019 ist er Präsident des Klinikverbundes. Der Mediziner ist darüber hinaus seit 2002 als Chefarzt der Abteilung für Konservative Orthopädie am Marienkrankenhaus St. Josef in Losheim am See tätig. Seit 2015 ist er dort zudem Ärztlicher Direktor. Sein Schwerpunkt ist die Diagnostik und nicht-operative Behandlung degenerativer und rheumatologischer Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Osteologie, die spezielle Schmerztherapie und die Sportmedizin.
In der akutmedizinischen Abteilung für Konservative Orthopädie in Losheim werden vor allem chronifizierungs-gefährdete und chronische Patienten behandelt, die mit ihren Beschwerden oft schon einen langen Leidensweg hinter sich haben. Ein weiteres Interessengebiet von Jan Holger Holtschmit ist das Therapeutische Reiten. Er ist Präsident des größten Verbandes der Welt für Therapeutisches Reiten, des DKThR. Sportmedizinisch kümmert er sich besonders um Reiter. Er war langjähriges Mitglied des Medical Committees des Weltreiterverbandes FEI. Zuletzt war er für die FEI bei den Paralympics in Rio de Janeiro unterwegs und wird auch bei den Paralympics im August 2020 in Tokio wieder dabei sein.
Über ANOA: Die ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken) ist eine medizinisch-wissenschaftliche Vereinigung von mittlerweile 29 Akutkrankenhäusern, die im nicht operativen orthopädisch-unfallchirurgischen, manualmedizinischen und schmerztherapeutischen Bereich tätig sind. Patienten mit komplexen und multifaktoriellen Erkrankungen des Bewegungssystems sowie mit chronischen Schmerzerkrankungen benötigen multidisziplinäre und multimodale Diagnostik- und Therapiekonzepte. Im Mittelpunkt des ANOA-Konzeptes stehen daher individualisierte befundorientierte Behandlungen auf neuroorthopädischer Grundlage unter Einbeziehung manualmedizinisch-funktioneller, schmerzmedizinischer und psychotherapeutischer Methoden.
Die ANOA ist der Auffassung, dass nur im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung langfristig wirksame Therapiekonzepte umgesetzt werden können. Dazu hat die ANOA klinische Behandlungspfade mit besonderen Behandlungsschwerpunkten entwickelt. Das ANOA Konzept basiert auf den neuesten medizinischen Erkenntnissen und ist wissenschaftlich überprüft. Die Prozess- und Ergebnisqualität im ANOA Konzept wird kontinuierlich multizentrisch evaluiert. Mit dem 2016 entwickelten ANOA-Zertifikat können Kliniken ihre Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität nachweisen und sichern.