Berlin – Bilanz nach 16 Jahren gemeinsamer Arbeit für die ANOA: ANOA-Präsident Dr. Wolfram Seidel und ANOA-Geschäftsführer Dr. Matthias Psczolla im Interview.
Herr Dr. Seidel, Herr Dr. Psczolla: Sie beide können nicht nur auf eine jahrzehntelange Karriere als Chefärzte renommierter Kliniken zurückblicken, Sie haben zudem auch die ANOA – die Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer Akut-Kliniken – im Jahr 2003 gemeinsam gegründet und das ANOA-Konzept unter Mitwirkung engagierter Kollegen kontinuierlich weiterentwickelt. Zum Ende des Jahres werden Sie beide von Ihren Ämtern in der medizinisch-wissenschaftlichen Vereinigung zurücktreten. Worauf sind Sie stolz, wenn Sie auf die vergangenen Jahre zurückblicken?
Dr. Wolfram Seidel :Stolz ist der richtige Ausdruck. Wir sind jedoch nicht nur stolz, sondern auch außerordentlich dankbar. Dankbar dafür, dass es wir in jahrelanger Arbeit für das ANOA-Konzept die Einheit von Standardisierung und Individualisierung in der akutmedizinischen Versorgung von Patienten im Krankenhaus entwickeln konnten. Dies war nur möglich, weil wir uns gezielt mit Kollegen aus unterschiedlichen Fachbereichen zusammengetan haben, um im Team am Patienten zu arbeiten. Vom medizinischen Aspekt her war das für uns ein großer Erfolg. Doch allein als Mediziner wären wir nicht dazu in der Lage gewesen, das ANOA-Konzept abschließend umzusetzen. Erforderlich dazu war auch eine gute Zusammenarbeit mit den Betriebswirten sowie mit den Krankenkassen. In einem langen Prozess und mühsamer Kleinarbeit ist es uns gelungen, diese zentralen Partner zu überzeugen, dass die konservative Komplexbehandlung für die Versorgung von Patienten mit Erkrankungen am Bewegungssystem insbesondere mit schmerz- und funktionspathologischen Aspekten wichtig ist.
Das Konzept hierzu haben wir an unseren Kliniken gemeinsam erarbeitet, jahrelang erprobt und schließlich erfolgreich in das DRG-System integriert. Darauf sind wir in der Tat sehr stolz.
Dr. Matthias Psczolla:Ich möchte gerne noch ergänzen und dafür geschichtlich ein wenig ausholen: Und zwar verhielt es sich nach dem Krieg so, dass sich Orthopädie und Unfallchirurgie in Richtung operative Therapie entwickelten, während die konservative Therapie mehr und mehr in den Hintergrund trat. Für Patienten, die zum Beispiel durch Operationsfolgen mit Chronifizierung zu kämpfen hatten, gab es im Zuge dieser Entwicklung kaum noch fachlich versierte Ansprechpartner in Akutkliniken. Dies war sowohl für Wolfram Seidel als auch für mich der Ausgangspunkt, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Beide kamen wir aus manualmedizinischen Fachgesellschaften und hatten in diesen Tätigkeiten erlebt, dass für Patienten, die chronifiziert erkrankt keine OP-Indikation hatten oder aus operativen Verfahren zurückkamen und immer noch unter Schmerzen litten, die ambulanten Behandlungsmöglichkeiten ausgereizt waren. Daraufhin hatten wir unabhängig voneinander die Idee, wie diese Patienten behandelt werden könnten. Stationär fokussiert auf konservative Behandlung. Eine Idee, auf die ich auch heute noch sehr stolz bin.
Bei unserem Perspektivwechsel stand vor allem folgende Frage im Vordergrund: Was braucht der chronisch erkrankte Patient, um wieder gesund zu werden? Gemeinsam haben wir uns dann der Aufgabe verschrieben, hierauf eine Antwort zu finden und in jahrelanger Arbeit das am Patienten orientierte ANOA-Konzept entwickelt: befundorientiert, multimodal und multiprofessionell. Um mit diesem Konzept in unserem sehr schwierig konstruierten medizinischen Versorgungssystem erfolgreich sein zu können, mussten wir natürlich die Politik miteinbinden. Das haben wir in mühevoller Kleinarbeit getan und dabei viel erreicht. So konnte die Behandlung der Funktionserkrankung ergänzend zur Behandlung der Schmerzerkrankung im DRG-System verwirklicht werden. Einer unserer Vorschläge von damals war der OPS 8-977. Für uns ein großer Erfolg, dass er akzeptiert wurde. Aber nichtsdestotrotz: Es gibt auch für die Zukunft noch viel zu tun, was die Arbeit unserer politischen Einflussnahme betrifft.
Die ANOA hat die Standards der Komplexbehandlung in der nichtoperativen Orthopädie in den vergangenen Jahren stark mitgeprägt. So haben Sie, Herr Dr. Seidel, unter dem Titel „Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems“ mit dem Verbund ein übersichtliches Konzeptbuch herausgegeben, das umfassende Fachinformationen bietet. Zudem ist 2018 das erste Weißbuch „Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie“ erschienen, bei dem Sie, Herr Dr. Psczolla, Mitherausgeber sind. Die Autoren erklären in zehn Forderungen, wie die konservative Therapie gestärkt werden kann. Wo stehen wir heute und wie kann es gelingen, die konservative Behandlung weiter zu stärken?
Dr. Psczolla: Sowohl mit dem gerade erwähnten Weißbuch als auch mit den „Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems“ ist es uns – im Übrigen nach vielen Widerständen – gelungen, den Standard festzuhalten, oder anders gesagt: unser Konzept zu verschriftlichen. Wir haben damit demonstriert, dass die konservative Methode nicht nur risikoarmer ist als die operative, sondern oftmals gleiche oder sogar bessere Erfolge erzielt. Parallel dazu gab es die Entwicklung, dass konservative Themen mehr und mehr Gegenstand von Kongressen wurden. Auch durch die entsprechenden Fachgesellschaften haben wir, bedingt durch die Aktivitäten der ANOA, viel Zuspruch für unsere Konzepte erfahren. Natürlich sind wir längst noch nicht am Ziel unserer Arbeit. Im Weißbuch sind ja viele Felder aufgeführt, die noch zu besetzen sind – von der besseren Vergütung der konservativen Komplexbehandlung, über die Stärkung der Versorgungsforschung, bis hin zur bereits erwähnten Übertragung der konservativen Behandlung in den stationären Bereich. Das alles ist jedoch ein Prozess. Zusammenfassend kann ich ganz zuversichtlich sagen: wir sind auf einem guten Weg und haben bereits viel erreicht.
Gerade in Zeiten, in denen sich die Krankenhauslandschaft im Umbruch befindet, entwickelt die ANOA Strategien und macht sich gegenüber Krankenkassen, Medizinischem Dienst und Politik für eine Aufwertung der multimodalen Behandlung stark. Sind positive Entwicklungen in Sicht?
Dr. Seidel: Leider ist es nicht einfacher geworden. Wir sind, wie von Ihnen gerade erwähnt, in allen Bereichen sehr aktiv: gehen auf Kostenträger zu, sind Ansprechpartner für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Der allgemeine Trend jedoch geht – auch wenn die Notwendigkeit der multimodalen Komplexbehandlung inzwischen überall gesehen wird – mehr und mehr in die Richtung, dass Behandlungen ambulant durchgeführt werden sollen. Auch aus wirtschaftlichen Gründen. Dementsprechend wird bei jeder nicht-operativen Behandlung kritisch geschaut, ob sie wirklich in einer Klinik erfolgen muss. Unsere Patienten stehen dann vor einem wirklichen Dilemma: denn die ambulante Herangehensweise, die nachhaltig hilft, gibt es noch nicht und stellt häufig eine Fehlbehandlung dar. Die multimodale Komplextherapie im Krankenhaus ist daher nach wie vor unverzichtbar.
Dr. Psczolla: In der Tat ein Dilemma! Es gibt noch so vieles, was ich für nicht tolerierbar halte. Die Beurteilungskriterien in den MDK‘s der einzelnen Bundesländer beispielsweise sind vollkommen unterschiedlich. Damit legt man unserer Arbeit am Patienten immer wieder Knüppel zwischen die Beine. Meine Forderung für die Zukunft daher: bundesweit gleiche Beurteilungskriterien sowie mehr politische Unterstützung unserer multimodalen Komplextherapie! Den von Herrn Dr. Seidel beschriebenen gegenwärtigen Trend, nur noch ambulant zu behandeln, halte ich für eine Farce. Er geht völlig am Patienten und der Versorgungssituation vor Ort vorbei und stellt für uns eine Entwicklung dar, die wir politisch schärfstens bekämpfen! Denn in der Konsequenz gehen nicht wenige konservative Kliniken pleite, die dringend gebraucht werden und gute Arbeit leisten. Was mich aber wirklich und in der Tiefe schmerzt ist die Tatsache, dass wir im Gesundheitssektor in Deutschland derzeit die sukzessive Ausbreitung einer Misstrauenskultur erleben, die das Klima vergiftet. Wir sehen uns mit diffusen Abrechnungsstrukturen konfrontiert, von vornherein wird den Kliniken unterstellt, bei ihnen stünde das Geldverdienen im Fokus, ohne dafür die entsprechende Leistung zu erbringen. Aus jahrzehntelanger beruflicher Erfahrung weiß ich, wie falsch und zugleich kontraproduktiv das ist. Daher fordere ich einen Perspektivwechsel zu Gunsten des Patienten auch seitens der Politik: der Patient sollte in unserem Vergütungssystem an oberster Stelle stehen!
Was wünschen Sie der ANOA und dem neuen Präsidium für die Zukunft?
Dr. Psczolla: Ich wünsche mir vor allem die Fortsetzung unserer gemeinsamen guten Arbeit in den Teams!
Dr. Seidel: Mein Wunsch ist es, dass in absehbarer Zukunft eine stärkere Akzentsetzung im Bereich der Lehre und der Wissenschaft gelingt. So könnten ANOA-Inhalte zur Diagnostik sowie zur Therapie in unterschiedlichen Fachgebieten an den Universitäten gelehrt werden. Es ist einfach unverzichtbar, dass der Nachwuchs auf uns aufmerksam wird – denn nur dann sind wir für die Zukunft gut aufgestellt.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Natascha Kompatzki.