Die Orthopädie und Unfallchirurgie beschäftigt sich mit den angeborenen und erworbenen Störungen und Verletzungen am Stütz- und Bewegungsapparat. Was liegt also näher, als sich mit einem Medikament zu beschäftigen, welches in der Lage ist, einen Muskel für eine gewisse Zeit zu schwächen und damit positive Effekte zu erzielen, gefährdete Strukturen zu schützen, Schmerzen zu lindern und Ungleichgewichte zu reduzieren?
Botulinumtoxin ist ein Exotoxin des stäbchenförmigen anaeroben Bakteriums Clostridium botulinum, welches in verschiedenen Subformen existiert. Die meisten Typen sind human- und/oder tierpathogen, bei manchen Typen ist die Pathogenität nicht bekannt. Botulinumtoxine werden teilweise gleichzeitig auch in verschiedenen Typen vom gleichen Bakterium produziert, in seltenen Fällen handelt es sich auch um Toxine anderer Clostridienarten. Der Subtyp Botulinumtoxin A gilt als das weltweit bekannteste stärkste Gift. Die dazugehörige Erkrankung wird Botulismus genannt, europaweit treten durchschnittlich ca. 100 Fälle pro Jahr auf, wobei diese Zahl im Jahr 2023 durch eine neue iatrogene Anwendung ansteigen dürfte – vorwiegend im südosteuropäischen Raum erfolgte ohne Zulassung gehäuft die endoskopische Infiltration der Magenmuskulatur mit dem Ziel der Motilitätssenkung zur Gewichtsabnahme, wobei es in größerer Anzahl zu klinisch relevanten ungewollten Überdosierungen kam. Die Erkrankung tritt in verschiedenen Formen auf, mit unbehandelt potentiell letalem Ausgang. In sehr hoher Verdünnung werden verschiedene Formen des Botulinumtoxin Typ A, beginnend vor ca. 30 Jahren, auch zur Behandlung einer Vielzahl von Erkrankungen verwendet. In der EU sind im Wesentlichen drei verschiedene Typen erhältlich, kürzlich kam noch ein 4. Typ aus Südkorea hinzu, ein 5. Typ aus den USA besitzt die Zulassung, ist Stand Mai 2023 jedoch (noch) nicht erhältlich, diese beiden Typen sind jedoch in ihren Heimatländern schon lange auf dem Markt etabliert. Daneben existiert auch noch ein weiterer Typ Botulinumtoxin Typ B als Medikament, welches jedoch keine große Rolle spielt.
Wirkprinzip
Seit Jahrzehnten bekannt ist der Wirkmechanismus der präsynaptischen Blockade der Freisetzung von Acetylcholin im synaptischen Spalt, entsprechend einer irreversiblen chemischen Denervierung über einen gewissen Zeitraum. Danach bilden sich die entsprechenden Strukturen neu aus, die ursprüngliche Funktion kehrt zurück. Der gleiche Transmitter findet sich auch in Drüsengeweben, wodurch sich auch eine analoge Wirkung erklärt, welche in der Regel jedoch länger anhält. In den letzten ca. 20 Jahren vermehrten sich jedoch auch Erkenntnisse über ein weiteren Wirkmechanismus, bei welchem im sensiblen Schenkel relevante Botenstoffe in der Freisetzung gehemmt werden, hier v.a. das CGRP. Schmerztherapeutisch bedeutet dies neben der Hemmung der sensiblen Schmerzentstehung in der Folge eine Reduktion der peripheren und nachfolgend auch der zentralen Sensibilisierung. Hieraus ergeben sich eine Vielzahl von neuen potentiellen Indikationen v.a. in unserem Gebiet.
Zugelassene Indikationen
Es gibt eine Vielzahl von offiziell zugelassenen Indikationen, wobei nicht alle Indikationen für alle Präparate zugelassen sind. Hierbei handelt es sich im Bereich der ästhetischen Medizin um die Behandlung von Falten im Bereich der Glabella, der Stirn und dem lateralen Augenwinkel sowie die Hyperhydrosis axillaris, im Bereich der Neurologie die cervikalen Dystonien, der Blepharospasmus, der Spasmus hemifacialis, die chronische Migräne sowie (fachübergreifend) die infantile Cerebralparese sowie weitere Spastiken der oberen und unteren Extremitäten anderer Genese, im Bereich der Urologie und Urogynäkologie die Harninkontinenz, der imperative Harndrang und die Pollakisurie sowie fachübergreifend (neu) die Siallorhöe. Als echte zugelassene Schmerzindikation ist neben der chronischen Migräne auch der Effekt zu benennen, dass die Behandlung der Spastik neben der antispastischen Wirkung auch eine Reduktion des spastikbedingten Schmerzes bewirkt. Selbiges gilt für die Dystonien, welche aber im Gegensatz zu den Spastiken eher als neurologische denn als interdisziplinäre Erkrankungen anzusehen sind. Diese Dystonien können jedoch ebenfalls mit starken schmerzhaften Zuständen einhergehen, deren Reduktion auch zu einer Schmerzreduktion führen kann.
Voraussetzung für die Behandlung
Die Behandlung mit Botulinumtoxin ist sowohl generell als auch in der Behandlung im Bereich der GKV nicht an eine bestimmte Facharztqualifikation gebunden, für alle Präparate wird jedoch eine (nicht näher definierte) Fachkenntnis verlangt. Die Anwendung durch Zahnärzte ohne humanmedizinischen Studienabschluss oder durch nicht-ärztliches Personal ist in Deutschland rechtlich nicht zulässig.
Anwendung zulasten der GKV
Sofern die fachlichen Qualifikationen des Behandlers/der Behandlerin, die präparatespezifische Indikationen, die Beachtung der WANZ-Kriterien und die Beachtung der Kontraindikationen gegeben ist, kann und muss die Behandlung zulasten der GKV erfolgen. Eine Ausnahme stellen die ästhetischen Indikationen der Faltentherapie dar, welche zwar eine inlabel-Anwendung darstellen, jedoch nicht zum Leistungskatalog der GKV gehören.
Off-label-use orthopädisch-unfallchirurgisch-schmerztherapeutischen Bereich
Es existieren eine Anzahl von Indikationen, für welche keine offizielle Zulassung besteht, die Anwendung jedoch als Heilversuch nach Ausschöpfung der zugelassenen Behandlungen erwogen werden kann. Voraussetzung hierfür sollte sein, dass möglichst eine größere Anzahl von qualitativ möglichst hochwertigen Studien für die jeweilige Indikation vorliegen, sodass im jeweiligen Einzelfall eine positive Indikation gestellt werden kann. Hierbei kann man pragmatisch in drei Kategorien unterteilen:
- Sinnvolle Indikationen, für welche eine größere Anzahl von (überwiegend) positiven qualitativ hochwertigen Studien und gegebenenfalls sogar systematische Übersichtsarbeiten mit und ohne Metaanalysen vorliegen.
- Mögliche Indikationen, für welche eine kleinere Anzahl von (überwiegend) positiven qualitativ hochwertigen Studien, qualitativ geringerwertige Studien und gegebenenfalls sogar systematische Übersichtsarbeiten mit und ohne Metaanalysen vorliegen.
III. Einzelfall-Indikationen, für welche nur einzelne Studien verschiedener Qualität und/oder widersprüchlichen Ergebnissen vorliegen.
Die Indikationsstellung gelingt umso einfacher, desto größer sich der wissenschaftliche Background darstellt. Grundsätzlich stellt der Off-Label-Use eines Präparates keine generelle Kontraindikation dar, neben der von sehr seltenen Einzelfällen abgesehen Verordnungsfähigkeit zulasten der GKV muss hier eine adäquate Aufklärung und auch die haftungsrechtliche Absicherung des Anwenders/der Anwenderin beachtet werden, da hier die Herstellerhaftung für ein Off-Label-Use nicht greift.
In die Kategorie I der sinnvollen Indikationen kann man nach heutigem Wissensstand (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Korrektheit) für unser Fachgebiet und fachübergreifend die Schmerztherapie folgende Indikationen eingruppieren: Myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS und Schulterregion inkl. Cervikocephalgien, Epicondylitis humeroradialis, Plantarfasciitis und Trigeminusneuralgie.
In die Kategorie II der möglichen Indikationen kann man nach heutigem Wissensstand (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Korrektheit) für unser Fachgebiet und fachübergreifend die Schmerztherapie folgende Indikationen eingruppieren: Myofasziale Triggerpunkte im Bereich LWS, Bruxismus, Postzosterneuralgie, extraartikuläre Muskelentspannung bei Coxarthrose und anterior knee pain, intraartikuläre Therapie der Gonarthrose sowie Schulteraffektionen (adhäsive Kapsulitis, Impingementsyndrom und Omarthrose).
In die Kategorie III der Einzelfall-Indikationen kann man nach heutigem Wissensstand (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Korrektheit) eine Vielzahl von Indikationen in unser Fachgebiet und fachübergreifend in der Schmerztherapie eingruppieren, so z.B. diabetische Neuralgie, Morton-Neurom, Muskelentspannung bei Achillessehnenruptur, intraartikuläre Therapie von Reizzuständen nach Knieendoprothese, Stumpfschmerzen sowie Anwendungsproblematiken bei Exoprothesen durch vermehrte Schweißbildung.
Dosierungen, Anwendungsfrequenz und Anwendungsdauer
Manche Indikationen bedürfen in der Regel einer regelmäßigen Behandlung, wie z.B. Spastiken oder chronische Migräne, bei anderen Indikationen reichen oft eine einmalige oder eine niederfrequente Behandlung. Die normale Wirkdauer beträgt bei „muskulären“ Anwendungen sowie im Bereich der Schmerztherapie ca. 3 Monate, wobei sich dieses Intervall – v.a. bei regelmäßiger Anwendung – im Einzelfall auch etwas verlängern kann, im Bereich des Drüsengewebes beträgt die Wirkdauer normalerweise ca. 6 Monate. Die Behandlung mit Botulinumtoxin ist keine Akuttherapie, die verschiedenen Wirkungen setzen teilweise nach einigen Tagen, teilweise aber auch erst nach einigen Wochen ein. Das Mindestintervall von 3 Monaten zwischen zwei Anwendungen sollte eingehalten werden, da in einer geringen Frequenz und unterschiedlich je nach Präparat mit der Bildung von neutralisierenden Antikörpern zu rechnen ist, welche jedoch auch als dosisabhängig gilt. Für die einzelnen Präparate existieren Höchstdosen, bei deren Überschreitung der Inlabel-use verlassen wird. Gerade im Bereich der neurologischen Indikationen ist oft eine sehr sorgsame Indikationsstellung notwendig, da die Höchstdosen bei komplexen Erkrankungsbildern schnell überschritten werden, zudem handelt es sich um eine seitens der Präparate hochpreisige Therapie von bis zu ca. 1700 € pro Behandlung in der Maximaldosis. Bei der Behandlung von einzelnen Muskeln existieren von den Herstellern Dosisempfehlungen mit einer gewissen Spannbreite, wobei hier drei Aspekte zu beachten sind:
- Die Dosierungen der verschiedenen Präparate sind nicht 1:1 offiziell herstellerseitig umrechenbar, wobei für die Haupttypen Abo,- Inco- und Onabotulinumtoxin vielfach in der Literatur publizierte Orientierungswertes in der Umrechnung existieren.
- Die offiziellen Dosierungen beziehen sich auf offizielle Indikationen, so bedarf es in der Regel zur Behandlung außerhalb der Spastik geringerer Dosierungen als bei Spastik.
- Die individuelle Dosierung sollte sich immer an der Indikation, gegebenfalls dem individuellen Muskelstatus sowie Vorerfahrungen richten: Im muskulären Bereich droht bei einer Unterdosierung ein ausbleibender oder geringerer Therapieeffekt, bei einer Überdosierung dagegen eine höhergradige Parese ohne stärkeren Effekt auf das Therapieziel.
Ausbildung
Es existieren eine Reihe von Ausbildungsangeboten im Bereich der offiziellen Indikationen, für unser Fachgebiet existiert seit mittlerweile über 10 Jahren mit mittlerweile über 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Ausbildungsserie der IGOST (Sektion Schmerz DGOOC und DGOU), nähere Informationen auf der Homepage der IGOST www.igost.de und der Homepage der Kursserie www.orthobotulinumtoxin.de.
Dr. S. Grüner (Köln), Prof. Dr. M. Lippert-Grüner (Köln, Prag)
AK Botulinumtoxin IGOST, Kursleiter