Seit vielen Jahren veranstalten die Akademie Deutscher Orthopäden (ADO) auf dem DKOU in Berlin einen Workshop zur manuellen Medizin. Um diese Tradition fortzuführen und weiter zu entwickeln wurde ein neues Workshop Konzept erarbeitet und vergangenen Oktober erstmalig durchgeführt. Kursleiter Dr. Hein Schnell (München) erläutert, was die Kursteilnehmer dort für Inhalte vermittelt bekommen.
Herr Dr. Schnell was ist das Ziel der Manuellen Medizin in O&U?
Dr. Hein Schnell: Ziel der Manuellen Medizin ist es, reversible Funktionsstörungen zu identifizieren und mittels verschiedener Behandlungstechniken zu beheben. Diagnostik und Therapie beruhen auf biomechanischen und neurophysiologischen Prinzipien. Vereinfacht gesagt ist eine solche Funktionsstörung ein festgefahrener und fehlgeleiteter Schutzreflex. Dies wiederum führt zu typischen, gut palpierbaren Veränderungen an Haut, myofaszialem System und den Gelenken. Bei der Behandlung werden gezielte Reize gesetzt, die auf neurophysiologischer Ebene eine sensomotorische Fehlleistung durchbrechen können.
Wie verbreitet sind diese Verfahren bei chronischen Leiden des Bewegungsapparates?Dr. Schnell: Leider noch viel zu wenig. Gleichwohl muss man sagen, dass gerade die chronischen Schmerzpatienten nicht alleine durch manuelle Verfahren geheilt werden können. Vielmehr bedarf es hier regelhaft eines multimodalen Ansatzes. Hierbei sollte die Manuelle Medizin jedoch insbesondere in der Diagnostik eine wesentliche Rolle spielen, da es gilt, komplexe funktionelle Zusammenhänge zu verstehen und Teufelskreisläufe zu durchbrechen. Auf Boden der manuell erhobenen Befunde kann z.B. auch ein individuelle Trainingsprogramm erstellt werden. Andere Therapieformen können überhaupt erst wirken, wenn bestimmte Fehlfunktionen aufgelöst sind.
Welche speziellen Anwendungsmöglichkeiten gibt es im Rahmen der Manuellen Medizin?
Dr. Schnell: Streng genommen gibt es nur eine Indikation, und das ist die besagte Funktionsstörung. Diese kann sich aber hinter mannigfaltigen Symptomen verbergen, zu nennen sind hier sicherlich die weit verbreiteten Schmerzsyndrome am Bewegungsapparat, aber auch Themen wie Schwindel und Tinnitus sowie thorakale und abdominelle Beschwerden können bei Funktionsstörungen auftreten. Zudem können viele strukturelle Pathologien manuell begleitet werden. Dabei wird immer die mit der Pathologie einhergehende Funktionsstörung behandelt. Sehr gut funktioniert dies z.B. bei der Gonarthrose oder bei posttraumatischen/postoperativen Zuständen.
Soviel zur Theorie. Die Praxis vermitteln Sie u.a. im Rahmen von Workshops. Wie sehen diese aus?
Dr. Schnell: Für die verschiedenen Bereiche des Stütz- und Bewegungsapparates sind eine Vielzahl von Techniken und Griffen bekannt, die ein großes Therapiespektrum abdecken. Diese lassen sich am besten im Rahmen von Kursen und Workshops mit hohem praktischem Anteil erlernen und vertiefen.
Schon seit vielen Jahren veranstaltet die Akademie Deutscher Orthopäden gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin auf dem Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) in Berlin solche Workshops zur manuellen Medizin.
Um diese Tradition fortzuführen und weiter zu entwickeln wurde ein neues Workshop Konzept erarbeitet und vergangenen Oktober erstmalig durchgeführt.
Mit welchem Ziel haben Sie dieses Konzept eingeführt?
Dr. Schnell: Erklärtes Ziel war es, bisher manualmedizinisch nicht weitergebildete Kolleginnen und Kollegen für die heilsame Arbeit mit den Händen zu begeistern und zu gewinnen. Um das zu erreichen, bedarf es zunächst eines Grundverständnisses, welche Pathologien manualmedizinisch therapiert werden können, wie die Indikation zur manuellen Intervention grundsätzlich überhaupt gestellt wird und auf welche Weise manuelle Maßnahmen wirken. Entscheidend sind dann die AHA-Erlebnisse im praktischen Teil.
Wie läuft so ein Workshop ab?
Dr. Schnell: Das neue Konzept wurde erstmalig 2021 in Berlin am DKOU durchgeführt. Im Rahmen des zweieinhalbstündigen Workshops wurde zunächst in Form eines interaktiven Vortrags eine Infografik entwickelt, auf welcher die grundlegenden neurophysiologischen Verschaltungen der Schmerzwahrnehmung, Schmerzverarbeitung sowie der schmerzinhibitorischen Systeme einfach nachvollziehbar dargestellt waren. Daraus wurde abgeleitet, was wir unter einer sogenannten Blockierung (segmentale und somatische Dysfunktion) verstehen.
Auf Boden der gemeinsam erarbeiteten Erkenntnisse war allen 30 Teilnehmenden anschließend nachvollziehbar klar, dass und warum die Blockierung/Dysfunktion kein mechanistisches Problem, sondern vielmehr eine koordinative, sensomotorische und reflektorische Fehlleistung darstellt.
Im nächsten theoretischen Schritt wurde der Frage nachgegangen, auf welche Weise die Therapie mit den Händen auf neurophysiologischer Ebene wirken kann.
Im sich anschließenden knapp zweistündigen praktischen Teil wurde vom Referenten-Team des Seminars für Manuelle Medizin und Manuelle Therapie (MWE) Hein Schnell, Michaela Habring und Sabine Drisch) in drei Gruppen einfache funktionelle Untersuchungstechniken und risikofreie therapeutische Grifftechniken für den unteren Rücken (LWS und SIG), die unteren Extremitäten (Kniegelenk und Sprunggelenk) sowie auch für die HWS-Nacken Region demonstriert und von den Teilnehmenden direkt selbst durchgeführt, d.h. im wahrsten Sinne begriffen.
Welches Feedback erhalten Sie von den Teilnehmern?
Die überwiegende große Mehrheit ist mehr als angetan.
Wo herrschen aus Ihrer Sicht die meisten Unsicherheiten, Rückfragen?
Dr. Schnell: Es existieren immer noch Vorbehalte und falsche Vorstellungen, insbesondere was das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Methode beispielsweise an der HWS angeht. Bei korrekter Indikationsstellung und lege artis durchgeführter Behandlung ist die Manuelle Medizin anderen Verfahren häufig weit überlegen, was das verfahrensspezifische Risiko angeht.
Inwiefern planen Sie eine weitere Zusammenarbeit zwischen BVOU und MWE für die kommende Zeit?
Dr. Schnell: Die Zusammenarbeit zwischen BVOU und MWE soll zukünftig noch intensiviert werden. Gemeinsame Workshop-Konzepte für DKOU in Berlin sowie VSOU in Baden-Baden werden aktuell erarbeitet, auch im Rahmen der BVOU Landeskongresse sollen Vorträge, Seminare und Workshops stattfinden.
Wer sich für eine Weiterbildung mit dem Ziel der Zusatzbezeichnung Manuelle Medizin interessiert, dem sei die Homepage der MWE ans Herz gelegt, hier finden sich alle wesentlichen Basisinformationen sowie auch viele Termine an bundesweit verteilten Weiterbildungsstellen. Organisatorische Fragen zum Ablauf der Kurse u.ä. beantwortet das Sekretariat der MWE gerne per E-Mail (info@manuelle-mwe.de). Inhaltliche Fragestellungen sowie Anfragen zu wissenschaftlichen Veranstaltungen oder Wünsche nach speziellen Workshops bitte jederzeit an Dr. Hein Schnell (kontakt@heinschnell.de).
Herr Dr. Schnell, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Janosch Kuno, BVOU-Pressearbeit.
ADO-Workshop Manuelle Medizin – auch im Krankenhaus wertvoll – DKOU 2022
Mittwoch, 26. Oktober 2022 von 14:00 – 17:00 Uhr
Messe Berlin Eingang Süd, 14055 Berlin, Deutschland