Frankfurt am Main – In Kliniken und Praxen hat sich in den vergangenen Jahren die „Fehlerkultur“ deutlich weiterentwickelt. Das Bewusstsein für eine „kompromisslose Patientensicherheit“ wird in den Mittelpunkt gestellt. Hierzu haben Patientenverbände, Aktionsbündnisse, Medien und nicht zuletzt die Ärzteschaft selbst erheblich beigetragen. Die durch die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern festgestellte „Fehlerquote“ ist rückläufig: von 1.845 im Jahr 2016 auf 1.783 im Jahr 2017. Damit liegt diese Quote im bruchteiligen Promillebereich aller Patientenkontakte in Praxen (ca. eine Milliarde pro Jahr) und aller Behandlungen in Kliniken (ca. 19,5 Millionen pro Jahr).
„Akzeptable“ Sicherheitsziele für ärztliche Behandlungen gibt es nicht
Bei den Anträgen auf Sachentscheidung liegen die Kliniken im Vergleich mit den Praxen 3:1 vorne. Orthopädie und Unfallchirurgie und Orthopädie „führen“ mit Abstand (ca. 2:1) vor der nächsten Gruppe: den Hausärzten. Die Dunkelziffer von nicht erfassten Fehlern oder Beinahe-Fehlern ist nicht bezifferbar und vermutlich deutlich höher. Das Sicherheitsziel von 10-8 der Lufthansagruppe (entsprechend einem Totalverlust je 100 Jahre) ist für ärztliche Behandlungen nicht realistisch. Allerdings sind „akzeptable“ Sicherheitsziele für ärztliche Behandlungen überhaupt noch nicht definiert oder differenziert darstellbar. Man zieht sich auf veröffentliche Komplikationsraten in der Literatur und zunehmend auf Analysen von Routinedaten der Kostenträger zurück.
Skandalisierung in den Medien bedeutet häufig eine Vorverurteilung
Und hier beginnt das Dilemma: Was ist ein Fehler – und was eine schicksalshafte Komplikation? Wie ist das eine vom anderen abzugrenzen? Gerade die Diskussionen um nosokomiale Infektionen zeigen das Problem in seiner ganzen Schärfe. Durch manche Medien werden diese Diskussionen unter Verwendung des Begriffs „Pfusch“ bewusst zur Auflagensteigerung und skandalisierend genutzt. Dieser Begriff beinhaltet aber nicht nur einen möglichen Fehler an sich, sondern unterstellt mindestens grobe Fahrlässigkeit oder sogar Vorsatz – eine fachliche wie soziale Vorverurteilung.
Das Vertrauen zwischen Arzt und Patient sinkt – wechselseitig
Die Klagebereitschaft der Patienten – und ihrer Angehörigen – wird durch solche Entwicklungen geschürt. Krankenkassen, Anwälte und Verbände bieten großzügig und ermunternd Unterstützung an. Die Akzeptanz von Komplikationen oder gar schicksalshaften Verläufen sinkt gegen Null, auch bei fachgerechter Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen. Das für jeden Eingriff und Heilerfolg wichtige Arzt-Patienten-Vertrauen schwindet – durchaus wechselseitig.
Die gute Patientenführung ist ein wesentlicher Einflussfaktor
Der Arzt, daran sei erinnert, schuldet dem Patienten lediglich eine nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen durchgeführte Behandlung mit Facharztstandard. Er schuldet keinen Behandlungserfolg. Wie sollte dieser auch in jedem Einzelfall objektivierbar sein? Jeder Arzt kennt genügend Beispiele von hoch zufriedenen Patienten nach objektiv mäßigem Behandlungsergebnis und umgekehrt. Patientenindividuelle Dispositionen sowie die „ärztliche Kunst“ der Patientenführung sind häufig wesentliche Einflussfaktoren.
Vor diesen Hintergründen ist es nicht verwunderlich, dass die Orthopädie und Unfallchirurgie bei den Fehlbehandlungsvorwürfen und -nachweisen „führt“. Moderne Bildgebungsmethoden machen auch marginale „Fehlpositionierungen“ von Implantaten sowie „Fehlheilungen“ sichtbar. In einem auf Lebensqualität und Lifestyle ausgerichteten Medizinsektor mit entsprechend angepassten Behandlungsversprechen steigt konsequent die Klagebereitschaft. Dass „Fehler“ möglicherweise gar nicht vorliegen, will man häufig nicht wahrhaben – und geht durch alle Instanzen. Das ist ermüdend, teuer und meist frustran.
Die Beweislastumkehr würde die Regeln des Rechtsstaats verletzen
Nicht zuletzt deshalb kommt immer wieder die Forderung nach „Beweislastumkehr“ auf wie kürzlich von der Stiftung Patientenschutz oder den gesundheitspolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen von Grünen und Linken. Im Klartext bedeutet das: Die Regeln des Rechtsstaats würden verletzt, denn nicht die Anklage müsste eine Schuld bzw. einen Fehler nachweisen, sondern der Beschuldigte seine Unschuld. Dabei arbeiten die derzeit zur Verfügung stehenden Stellen (Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Landesärztekammern, Medizinischer Dienst der Krankenkassen, Zivilgerichte) differenziert, objektiv und effizient. Für ein „Zentralregister“ müsste man daher deren Ergebnisse lediglich digital zusammenführen – oder nur noch einen primären Weg politisch öffnen.
Dass berechtigte Entschädigungsansprüche von Patienten oft erst nach Jahren befriedigt werden können, ist dabei bedauerlich und dem allgemeinen Rechtsprozess geschuldet.
Härtefallfonds könnten hier sinnvoll sein. Doch wie sollen diese konkret „gespeist“ werden? Was geschieht, wenn nach Entschädigungsauszahlung ein Fehler letztinstanzlich doch zurückgewiesen wird? Rückzahlung? Oder werden auch „schicksalshafte“ Komplikationen mit einbezogen – was einen derartigen Fonds massiv aufblähen würde? Bereits heute gibt es kaum noch Versicherer, die Kliniken gegen Schadensersatzansprüche versichern. Und die Prämien steigen.
Absicherung durch „Dokumentation total“ ist im bereits derzeit völlig überbürokratisierten und überdokumentierten Medizinbetrieb nicht umsetzbar. Die Einführung einer generellen „Beweislastumkehr“ würde wahrscheinlich, jedenfalls als Nebeneffekt, zur einer deutlichen Kostenreduktion im Gesundheitswesen führen. Denn Hochrisikopatienten würden elektiv nicht mehr operiert oder behandelt werden. In Zeiten zunehmenden Körpergewichts und Alters politisch kaum vermittelbar. Allerdings kann ein Arzt eine Behandlung – sofern sie nicht notfallmäßig geboten ist – ablehnen. Eine ärztliche Handlungsoption, derer sich viele Patienten und auch die Öffentlichkeit selten bewusst sind. Vielleicht ist das ja der verdeckte gesundheitspolitische Ansatz hinter der immer wiederkehrenden Diskussion um eine generelle Beweislastumkehr?
Prof. Dr. Dr. Reinhard Hoffmann, BVOU-Vizepräsident