Frankfurt am Main – Alle Jahre wieder: Statistiken von vorgeworfenen und nachgewiesenen medizinischen Fehlern landen zuverlässig auf den Titelseiten der Medien. Und natürlich sind die Zahlen wieder gestiegen… So erstellte der MDK (Medizinische Dienst der Krankenkassen) in 2019 rund 14.500 Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern. In einem Viertel davon bestätigte sich der Verdacht einer Fehlbehandlung, in jedem fünften Fall habe der Fehler den erlittenen Schaden auch verursacht. Die Zahlen der Gutachter- und Schlichtungsstellen der Ärztekammern liegen meistens deutlich niedriger und im Vergleich zu allen durchgeführten Behandlungen im niedrigen Promillebereich. Aber: jeder Fall einer nachgewiesenen Fehlbehandlung ist ein Fall zu viel. Es ist daher erfreulich, dass sich in den vergangenen Jahren in der Medizin eine „Fehlerkultur“ entwickelt hat. Gravierende Fehler lassen sich durch aktive Qualitätsmaßnahmen zum großen Teil vermeiden. Aus einer „Fehlerkultur“ wird somit zunehmend eine „Fehlervermeidungskultur“.
Warum nehmen tatsächliche oder vermeintliche Fehler dann aber zu?
In einer zunehmend aufgeheizten öffentlichen Atmosphäre und Debatte, nimmt die Bereitschaft Behandlungsergebnisse, die nicht den persönlichen Erwartungen entsprechen, auf fehlerhafte Behandlungen zurückzuführen, stetig zu. Komplikationen werden nicht mehr akzeptiert, auch wenn über ihr mögliches Auftreten sach- und fachgerecht aufgeklärt wurde. Durch Arbeitszeitkorsetten aufgezwungene Arbeitsteilung, ständige Arbeitsverdichtung und ausufernden Dokumentationszwang leidet zudem das persönliche Arzt-/Patientenverhältnis. Der Arzt muss für alles Zeit haben – außer für seine Patienten. Aus einem sehr persönlichen Verhältnis entwickelt sich eine „Kundenmentalität“, die nicht nur eine fachgerechte ärztliche Behandlung einfordert, sondern auch massiv das gewünschte Behandlungsergebnis. Diese Kundenmentalität wird durch die immer stärker propagierte Ökonomisierung des Gesundheitswesens mit gleichzeitig zunehmendem Marginalisierungsdruck auf die Leistungserbringer gefördert. Es resultieren Spannungsfelder, die eine höhere Klagebereitschaft, mehr Begutachtungen und folglich mehr entdeckte „Fehler“ generieren. Das Wort „Ärztepfusch“ ist dann schnell zur Hand – und unterstellt durch diese Wortwahl bewusst Vorsatz oder mindestens Fahrlässigkeit. Der ärztliche Berufsstand wird dadurch zunehmend diskreditiert und das für jeden Behandlungserfolg erforderliche Vertrauen a priori unterminiert.
Gibt es also immer mehr „Behandlungsfehler“ oder werden sie durch die genannten Entwicklungen nur häufiger aufgedeckt? Und: sehen wir nur die Spitze eines Eisbergs? Orthopädie und Unfallchirurgie standen und stehen immer im Fokus der „Ermittlungen“ und Sachstände. In der Orthopädie geht es schließlich um einen gesteigerten Lebenskomfort, in der Unfallchirurgie um die Erreichung mindestens des „status ante“. Das heißt, die Erwartungen sind gewaltig. Die Heilungsversprechen aber auch! Viele der bahnbrechenden, innovativen und medial gehypten Operationstechniken oder Implantate der vergangenen Jahre sind schon wieder „vom Markt“ oder irrelevant geworden. Die „Kunden“ lechzen nach immer neuen Heilmethoden – und diese Wünsche werden nicht nur erfüllt, sondern von Industrie, Ärzten und Auflage steigernden Presseberichten auch noch geschürt. Meist ohne nachgewiesene Evidenz. Klassisches Marketing eben – nicht selten unseriös und in erster Linie „marktorientiert“. Nur, dass das Produkt bei Versagen nicht einfach verschrottet werden kann. Versprechen und Erwartungen werden so häufig nicht erfüllt. Behandlungsfehler? Wer die Medizin konsequent durchökonomisiert, muss sich über solche Entwicklungen nicht wundern. Hippokratischer Eid und Ökonomie? Da ist Spannung vorprogrammiert!
Sehen wir also die Spitze eines Eisbergs? Vermutlich nicht. Gravierende Fehler werden heute meist sicher erkannt und zu recht beklagt. Dazu sind sie gerade in der Orthopädie und Unfallchirurgie in der Regel zu offensichtlich. Gleichzeitig steigen aber auch die Schadensansprüche und -summen. Haftpflichtversicherer reagieren und „steigen aus“ oder erhöhen die Prämien massiv. Aber auch schicksalshafte Verläufe werden inzwischen in jahrelangen, für alle Parteien zermürbenden Prozessen mit zahlreichen Gutachten und Gegengutachten „aufgearbeitet“. Hier böten gegenseitige Kompromissbereitschaft und Entschädigungsfonds häufig schnellere Verfahren und akzeptable Kompensationen. Helfen anonymisierte Fehlermeldesysteme weiter oder helfen sie lediglich einen „Schnüffelstaat“ zu reanimieren? Zu einer „Fehlerkultur“ gehört ein offenes und ehrliches Bekenntnis zu echten Fehlern. „Whistleblower“ haben hier nichts verloren! Sie würden Misstrauen, Angst und einem Trend zur Defensivmedizin Vorschub leisten. Die gegenwärtigen Instrumente zur Aufklärung vermeintlicher Behandlungsfehler sind völlig ausreichend – mit den Gutachtern und Schlichtungsstellen der Ärztekammern an der Spitze. Wer bei „Google“ sucht, findet unter dem Begriff Behandlungsfehler über 450.000 Treffer. An Information und Möglichkeiten mangelt es also nicht.
Wer Behandlungsfehler vermeiden will, muss neben Strukturen, Prozessen und dem Arbeitsumfeld auch die Qualifikation der Ärzte und Ärztinnen im Auge haben. Nicht umsonst müssen Piloten und Pilotinnen kontingentierte Flugstunden erfüllen und hart trainieren. Dies kann dort unter „geregelten“ Bedingungen geschehen. In der Unfallchirurgie passieren Unfälle aber nun einmal ungeplant. Wer also durch z.B. zu starre, gesetzliche Arbeitszeitregulierungen und andere Ausfallszeiten den erforderlichen operativen „Case Load“ in der „prime time“ der chirurgischen Weiterbildung zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr nicht erreichen kann, wird zukünftig in seinem „Handwerk“ zwangsläufig schlechter „performen“ als die Generationen vor ihm oder ihr. Die alte Binsenweisheit: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ kommt nicht von ungefähr und bedarf keiner randomisierten Studien. Die frühe Flucht in die Superspezialisierung bietet hier nur einen scheinbaren und system-ökonomisch betrachtet, fraglichen wie teuren Ausweg.
Die Etablierung weiterer – auch persönlicher – Mindestmengenregelungen und eine Konzentrierung von Eingriffen auf top-spezialisierte Einrichtungen, werden sich unter diesen Bedingungen nicht vermeiden lassen.
Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler, auch Behandlungsfehler. Eine Betrachtung reiner „Zuwachsszahlen“ ohne eine differenzierte Analyse der genannten Umfeldbedingungen steht allerdings in der Gefahr, unseriös zu wirken.