Berlin – Die Ergebnisse zweier Modellvorhaben zur Blankoverordnung auf der Basis von § 63 Absatz 3b SGB V enthalten deutliche Hinweise darauf, dass sich die Behandlungsergebnisse durch eine gezieltere Auswahl der therapeutischen Maßnahmen im Verlauf der Behandlung verbessern können. Hier war in beiden Studien die Verschiebung von der reinen Krankengymnastik (KG) zur Manuellen Therapie (MT), die als Konzept ein breites Spektrum auch an spezifischen Ansätzen bietet, schlüssig. Wertvoll war auch die in beide Modellvorhaben integrierte Anleitung zu Eigenübungen der Patienten.
Wie sich allerdings mit dem Modellvorhaben II begründen lassen soll, dass ein Direktzugang zu Physiotherapeuten sinnvoll wäre, bleibt offen. Es scheint, dass die Auftraggeber dieser Studie hier eine Umdeutung der Fragestellung mit dem Ziel vorgenommen haben, die Blankoverordnung allein als nicht zielführend darzustellen. Was die Selektion der Patienten im Hinblick auf die Eignung für einen Direktzugang betrifft, so wäre sicher ein anderes Studiendesign zielführender gewesen. Grundsätzlich gilt aus ärztlicher Perspektive weiterhin, dass die bestehende Aus- und Weiterbildung von Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten derzeit nicht geeignet ist, sie zur Stellung einer Diagnose zu qualifizieren. Das wird auch mehrheitlich von Gesundheitspolitikern so gesehen. Auch im Hinblick auf die Kostenentwicklung werfen die Studien Fragen auf.
IFK bevorzugt den Direktzugang
Zum Hintergrund: Seit dem Jahr 2008 hat der Gesetzgeber im Rahmen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes Modellvorhaben ermöglicht, die es Physiotherapeuten nach einem verpflichtenden Arztkontakt des Patienten erlauben, „Auswahl und Dauer der physikalischen Therapie und Frequenz der Behandlungseinheiten bestimmen“ zu können. Diese Option namens Blankorezept oder Blankoverordnung und die begonnenen Evaluationen wurden in den letzten Jahren umfangreich zwischen der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (DGOU), dem Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (BVOU), der Bundesärztekammer (BÄK) und den physiotherapeutischen Fachverbänden diskutiert. Dabei zeigte sich, dass sich die physiotherapeutischen Verbände untereinander durchaus nicht einig sind in Bezug auf das Blankorezept und den Direktzugang ohne Arztkontakt zum Physiotherapeuten. So wird das Blankorezept vom Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten e.V. (IFK) im Grunde abgelehnt und der Direktzugang favorisiert.
DGOU, BVOU und BÄK stehen den entsprechenden Modellvorhaben generell skeptisch, aber offen gegenüber – wenn als Zielrichtung vorgesehen ist, die Patientenversorgung gemäß den gesetzlichen Vorgaben zu verbessern und die bestehenden Budgetgrenzen im Sinne der geforderten Qualitätsverbesserung zu erweitern. Nicht diskutierbar ist aus Sicht dieser ärztlichen Akteure allerdings der Arztvorbehalt für die Diagnose und Indikationsstellung. Nicht diskutierbar ist ebenso wenig die Notwendigkeit einer guten Abstimmung zwischen den Berufsgruppen, wenn eine Therapie keine Verbesserung des Zustands bewirkt oder sogenannte yellow / red flags den erneuten Arztkontakt eines Patienten erfordern.
Budgetverantwortung muss bei dem liegen, der die Therapie verantwortet
DGOU, BVOU und BÄK haben zudem immer wieder darauf hingewiesen, dass ein wichtiger Aspekt beim Blankorezept die geltende Budgetierung ist. Wenn ein Arzt heute auf der Basis seiner Diagnose und Indikationsstellung mit dem Patienten das therapeutische Vorgehen klärt, so ist er durch eine straffe Budgetierung in seinen Verordnungsmöglichkeiten beschränkt und kann in Regress genommen werden. Sobald ein Blankorezept einem Physiotherapeuten die Möglichkeit eröffnet, Art, Umfang und Dauer der vom Arzt indizierten Behandlung selbst zu bestimmen, muss folgerichtig auch die Budgetierung der jeweiligen Behandlung auf die physiotherapeutische Berufsgruppe übergehen. Denn es wäre nicht zulässig, Ärzte für Umfang und Art der Behandlung in Regress zu nehmen, obwohl sie diese nicht mehr selbst steuern. Diese Übertragung der Budgetverantwortung stößt bei den Berufsverbänden der Physiotherapeuten jedoch auf entschiedene Ablehnung.
Auch Fragen der Haftpflicht wären politisch und gesetzlich zu klären, bevor die Blankoverordnung nach einer Phase der Modellversuche zu einem Teil der Regelversorgung würde. Hierfür müssten beim Blankorezept weiter bestehende Schnittstellen der ärztlich-physiotherapeutischen Kooperation verbessert werden.
Zwei Modellverhaben, zwei Ansätze
Vor diesem Hintergrund sind die beiden Modellvorhaben nach § 63 Absatz 3b SGB V zu beurteilen, deren Ergebnisse im Herbst 2017 und im März 2018 veröffentlicht wurden. Bei Studie I handelt es sich um einen Modellversuch des Verbands Physikalische Therapie (VPT) und der Innungskrankenkasse Brandenburg und Berlin (IKK BB), den die Berliner Alice Salomon Hochschule ausgewertet hat. Er umfasste die Jahre 2014 bis 2016. Bei Studie II handelt es sich um einen Modellversuch des Bundesverbands selbstständiger Physiotherapeuten (IFK) und der Krankenkasse BIG direkt gesund, den die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ausgewertet hat. Er umfasste die Jahre 2011 bis 2017.
Während für die erste Studie nur von wenigen Patienten Ergebnisse vorliegen und das Modell ohne wesentliche Kooperation der Ärzteschaft verlief, kann die zweite Studie größere Patientenzahlen vorweisen. Sie ist aber nicht streng im Sinne einer Evaluation des Blankorezepts erfolgt, sondern soll offenbar zur Diskussion und Durchsetzung des physiotherapeutischen Direktkontaktes beitragen.
Studie I: dreifach erhöhte Behandlungsfrequenz, Studie II: keine Veränderung
In beide Untersuchungen wurden Patienten mit akuten und chronischen muskuloskeletalen Erkrankungen einbezogen. In Studie II handelte es sich um leichte bis mittelschwere Fälle bezüglich Schmerz und Funktionseinschränkung. Die postulierte Simulation, dass die Hälfte dieser Klientel für einen Direktzugang in Frage käme, wird nicht weiter unterlegt. Die diagnostischen Unterscheidungskriterien werden nicht dargelegt. Während sich die Behandlungsfrequenz der Patienten in Studie I auf das Dreifache erhöhte und sich die Behandlungszeit mehr als verdoppelte, was in der Regelversorgung erhebliche Kosteneffekte hätte, hat sich die Behandlungsfrequenz der Patienten in Studie II nicht verändert. Die Behandlungsdauer ging sogar deutlich nach unten.
In Studie I schlagen die längere Behandlungsdauer und eine engere Behandlungsfrequenz unmittelbar auf die Behandlungskosten durch: Sie erhöhten sich jeweils mindestens um das Doppelte. Das hätte bei einem Übertrag in die Regelversorgung erhebliche budgetäre Auswirkungen – oder wäre bei einer fortgesetzten Budgetierung ein Vorgehen, das nicht umsetzbar ist. Die Annahme, dass solche höheren Kosten zukünftige Behandlungskosten der Patienten senken helfen könnten, müsste erst noch in weiteren Studien belegt werden. In Studie II waren die Kosten beim Einsatz sowohl von MG wie KG identisch. Die Kosten für ärztliche Leistungen waren hier lediglich im Behandlungszeitraum leicht niedriger, Heilmittel- und Arzneikosten änderten sich nicht signifikant. Die postulierte Kostenersparnis im Fall eines Direktzugangs ohne Arztkontakt wird so insbesondere über einen längerfristigen Verlauf nicht bewiesen.
Insgesamt widersprechen sich einige Ergebnisse aus den beiden Studien, weshalb diese zahlreiche Fragen aufwerfen. Interessanterweise hat sich bei beiden Studien die Behandlungsmethode von der reinen Krankengymnastik weg hin zu der Manuellen Therapie verschoben, die effektiver ist, weil sie dem Behandler ein breites Spektrum bietet. Dies ist ein erfreuliches Ergebnis beider Studien, das zeigt, dass bei den für Funktionsstörungen und Schmerz gezielter einsetzbaren manualtherapeutischen Techniken die Behandlungsqualität steigt. In Studie II wurde hier das Gesamtergebnis zwar nicht beeinflusst. Aber die Behandlungsdauer hat sich verkürzt. Auch daraus lässt sich auf positive Effekte durch die MT schließen. Die verlaufsadäquate Wahl des breiten therapeutischen Spektrums im Rahmen der Blankoverordnung ist auch positiv zu bewerten. Ob dadurch wirklich langfristig Kostenvorteile in der Patientenbehandlung zu erzielen sind, bleibt unklar und wäre weiter zu evaluieren. Die Arbeitsunfähigkeitszeiten verkürzten sich nicht (Studie II) beziehungsweise dieser Aspekt wurde nicht weiter untersucht (Studie I).
Fazit aus ärztlicher Sicht
Aus ärztlicher Sicht thematisieren beide Ergebnisse der Modellvorhaben interessante Aspekte einer von physiotherapeutischer Seite geforderten Blankoverordnung. Während Studie I mit freier methodischer und zeitlicher Auswahl der Therapeuten bei guten Ergebnissen Zeit und Kosten der Behandlung erhöht, was die Frage nach Gesamtbudget und zukünftiger Kontrolle über dieses Budget zur politischen Frage macht, ist in Studie II bei Reduzierung der Behandlungsdauer keine Kostenerhöhung oder -ersparnis dargestellt.
Beide Studien geben einen starken Hinweis darauf, dass sich die Behandlungsergebnisse durch eine gezieltere Auswahl therapeutischer Maßnahmen im Verlauf der Behandlung verbessern können. Dass ein Direktzugang Vorteile hätte, lässt sich aus den Studien nicht ablesen. Wünschenswert wäre, die Effekte der Blankoverordnung unter der Voraussetzung des bestehenbleibenden Arztvorbehaltes in weiteren Modellvorhaben und durch gezieltere Studiendesigns auch bezüglich der Langzeitwirkung auf die Ergebnisqualität und die Kosten zu evaluieren.
Dr. Matthias Psczolla ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der nicht operativen orthopädischen manualmedizinischen Akutkrankenhäuser (ANOA). Die ANOA ist eine medizinisch-wissenschaftliche Vereinigung von Akutkliniken, die nicht operativ orthopädisch-unfallchirurgisch, manualmedizinisch und schmerztherapeutisch tätig sind.