Berlin – Peter Kaetsch, Vorstandsvorsitzender der Krankenkasse BIG direkt gesund, hat sich dafür ausgesprochen, Physiotherapeuten mittelfristig den Direktzugang zu gestatten und Modellvorhaben zu starten, die eine Substitution ärztlicher Leistung erlauben. Er appellierte bei der Vorstellung der Ergebnisse aus einem Modellvorhaben zur Blankoverordnung an die Politik, diesen Schritt zu gehen. (siehe hierzu auch: Blankoverordnung: Erste Ergebnisse). Der „Direct Access“ sei international etabliert, betonte Kaetsch. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen habe schon 2007 deutlich gemacht, dass man Entlastungsstrukturen schaffen müsse für die Ärzte: „Dies ist ein Teil der Medaille.“ Physiotherapie biete sich schon deshalb an, weil sie ein „Low-risk-treatment“ sei.
Mitte März präsentierten die BIG direkt gesund und der Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten e.V. (IFK) in Berlin die Ergebnisse eines Modellprojekts zur Blankoverordnung. Ausgewertet wurde es vom Institut für Physiotherapie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
40 Modellpraxen, 630 abgeschlossene Fälle
Projektleiterin Dr. Andrea Mischker verwies darauf, dass im Jahr 2011 in den Bereichen der Kassenärztlichen Vereinigungen Westfalen-Lippe und Berlin 40 Modellpraxen ausgewählt und geschult wurden. Die Studie startete dann am 1.6.2011 und endete am 31.12.2017. Orientiert habe man sich an wissenschaftlicher Standards (RCT). Patienten mit Interesse am Modellvorhaben seien in eine Modell- oder Kontrollgruppe eingeteilt worden. Die Modellgruppe habe physiotherapeutische Leistungen, über die der Therapeut entschied, erhalten, die Kontrollgruppe physiotherapeutische Versorgung gemäß vertragsärztlicher Verordnung.
Eingeschlossen wurden 888 Fälle, abgeschlossen 630. Teilnehmen konnten Frauen und Männer mit muskuloskeletalen Erkrankungen der unteren Körperhälfte oder der Wirbelsäule mit kurz- beziehungsweise mittelfristigem Behandlungsbedarf. Die Teilnehmer der Modell- und Kontrollgruppe hätten sich nicht in Bezug auf Alter, Geschlecht, Erwerbsstatus, Schweregrad der Erkrankung sowie Auswahl und Menge der verordneten Heilmittel unterschieden, so Mischker. Erkrankungen an der Wirbelsäule seien in beiden Gruppen mit 85 Prozent am häufigsten gewesen.
Die Behandlungsqualität war den Auswertungen zufolge in beiden Gruppen gleich hoch und gleich wirksam. Im Vorher-Nachher-Vergleich zeigten beide Gruppen signifikante Verbesserungen im Hinblick auf Schmerzentwicklung, Lebensqualität und Funktionsfähigkeiten. „Physiotherapeutisches Handeln ist also auch effektiv, wenn der Physiotherapeut autonom entscheidet“, urteilte die Projektleiterin.
Kürzere Behandlungsdauer, Mix aus Krankengymnastik und manuellen Methoden
Bei den Patienten, über deren Therapie der Physiotherapeut autonom entschied, verkürzte sich die Behandlungsdauer für Patienten um etwa zwei Wochen. Mehr Teilnehmer schlossen dann auch die Behandlung ab. Autonome Physiotherapeuten verwendeten nach den Worten von Mischker weniger allgemeine Krankengymnastik und mehr manuelle Medizin, und sie ergänzten diese mit weiteren Heilmitteln, so dass ein Mix aus aktiven und passiven Therapiemethoden entstehe. Bei den Kosten zeigten sich kaum Unterschiede, bis auf die Kosten für ärztliche Leistungen. Die Kosten für Arzneimittel und Arbeitsunfähigkeitstagen unterschieden sich in den beiden Gruppen nicht unterschieden. Die Patientenzufriedenheit sei in beiden Gruppen sehr hoch gewesen, hieß es. Einer Simulation zufolge könnten 50 Prozent der Patienten für den Direktzugang geeignet sein.