Wertheim – Wenn das Coronavirus die Welt verändert, werden Fragen des Infektionsschutzrechts auf einmal auch für den am öffentlichen Leben interessierten juristischen Laien und Ärzte aus primär nicht mit der Behandlung von Infektionskrankheiten befassten Fachgruppen brandaktuell und interessant. Das 2021 erschiene 426 Seiten starke „Handbuch Infektionsschutzrecht“ aus dem C. H. Beck Verlag hätte zu keinem anderen Zeitpunkt besser erscheinen können. 13 fachkundige Juristen verschiedener deutscher Universitäten stellen darin das Infektionsschutzgesetz (IfSG) als Querschnittsmaterie aus öffentlichem Gesundheitsrecht mit Schnittstellen zum Verwaltungsrecht, Gefahrenabwehrrecht, Datenschutzrecht, Entschädigungsrecht, Umwelt- und öffentlichem Wirtschaftsrecht umfassend dar und konnten selbst das am 19.11.2020 in Kraft getretene Dritte Bevölkerungsschutzgesetz noch berücksichtigen. Zugegeben: Der Nichtjurist wird in diesem Buch vielleicht nicht bis ins letzte Detail hineinlesen und man muss diese Themen schon ein bisschen mögen, aber wer es genau wissen will und erheblich fundierter mitreden will als mit Politikwissen aus der Tageszeitung, der liegt mit diesem Buch genau richtig, auch zum nur Querlesen.
Denn wie schon im hochinteressanten Grundlagenkapitel deutlich wird, ist niemals zuvor eine Infektionskrankheit so verrechtlicht worden wie COVID-19 und hat nie zuvor ein Virus eine so heftige Kontroverse ausgelöst. 2020 stellte der Verwaltungsgerichtshof München fest: „Die Corona-Pandemie ist ein seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erstmalig auftretendes Ereignis, das derzeit mit bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen gehandhabt wird, die auf eine Pandemie dieser Größenordnung nicht zugeschnitten sind.“ Und auch Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, dass das Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnungen Ausnahmen und Abweichungen von Parlamentsgesetzen vorsehen darf (§§5, 5a IfSG), die uns als Ärzte besonders betreffende kontroverse Debatte über den Status des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) mit den gegenläufigen Freiheitsrechten und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beschäftigen die Öffentlichkeit bis heute.
Insofern hat die Pandemie auch die Juristen vor ganz neue Fragestellungen und Herausforderungen gestellt, die das Buch neben vielen anderen Inhalten penibel aufarbeitet. Wer beispielsweise wissen will, wie sich die Regelzuständigkeit von Landesbehörden für den Vollzug des IfSG als Bundesgesetz (Art. 83, 84 GG) ergibt, wie sich das Robert-Koch-Institut (§ 4 Abs. 1 S. 1 IfSG) und das Paul-Ehrlich-Institut (§ 77 Abs. 2 AMG) legitimieren oder wie ein Feststellungsbeschluss des Deutschen Bundestages über das Vorliegen einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 S, 1 IfSG) die Gewaltenteilung verändert, Exekutivbefugnisse zentralisiert und die Rechtsetzung entparlamentarisiert, der findet Antworten im Buch schneller als in den eigentlichen Rechtsquellen und dazu noch sorgfältig kommentiert. Dies kommt gerade dem Nichtjuristen entgegen. Die Kapitelüberschriften der insgesamt 10 Kapitel verraten nur diesem vielleicht nicht auf Anhieb, welche interessanten Fragen wo im Buch beantwortet werden, aber ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis hilft schnell weiter. So versteckt sich zum Beispiel die Antwort auf die Frage nach der Legitimität von Grenzkontrollen innerhalb der EU in Pandemiezeiten hinter der zunächst trocken erscheinenden Kapitelüberschrift „Binnenmarktrechtliche Grundlagen des Infektions- und Gesundheitsschutzrechts“, welches dem Leser dann jedoch zu einer netten Auffrischung über vielleicht lang vergessenes Schulwissen über den europäischen Binnenmarkt oder die Solidaritätsklausel der Mitgliedsstaaten im Katastrophenfall (Art. 222 AEUV) verhilft. Den Blick auf die globalisierte Welt öffnet Kapitel 3 über die völkerrechtlichen Grundlagen des Infektionsschutzes mit dem Menschenrecht auf Gesundheit in Art. 25 Abs. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, die WHO und internationale Gesundheitsvorschriften (IHR).
Die den Grundlagenkapiteln nachgeordneten Kapitel zum deutschen Recht gehen dann sehr ins Detail, der Interessierte findet hier alles von A wie „Allgemeinverfügung“ und „Ausgangssperre“ bis „Zoonose“ und „Zweckbindungsgrundsatz“. Sie würdigen auf juristischem Fachniveau die betroffenen Referenzgebiete des Querschnittrechts. Für niedergelassene Ärzte dürften dabei insbesondere die Abschnitte zum Thema Impfen, Priorisierung, Impfpflicht, Infektionsmeldepflicht, Corona-Datenspende- und Contact-Tracing-App, Corona-Testverordnung oder Ausgleichszahlungen und Entschädigungstatbestände von Interesse sein. Krankenhausärzte werden die dargestellten Themen Freihaltepauschalen, Finanzierung zusätzlicher Intensivbetten oder Erhöhung des Pflegeentgeltwerts sowie die Triage als Rechtsproblem im Hinblick auf die Kategorie IV der „Hoffnungslosen“ und die Angst vor der „Veralltäglichung der Triage“ interessieren. Aber auch der Bezug von Infektionsschutzrecht zum Umweltrecht ist in Zeiten von „Fridays for Future“ von allgemeinbildendem Charakter. Und wie aktuell auch für forschende und anwendende Mediziner die Fragen des Gewerberechts bei Tätigkeiten mit Krankheitserregern sein können, zeigen die gegen den Lübecker Forscher Prof. Winfried Stöcker im Zusammenhang mit der von ihm betriebenen Corona-Impfstofferprobung vom PEI erhobenen Vorwürfe der Herstellung und Verabreichung eines Impfstoffes ohne Genehmigung. Stöckers Anwalt ist FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki. Dieser sagt: „Für die Herstellung eines Impfstoffes bedarf der Arzt keiner Genehmigung, sofern dies nicht gewerbsmäßig geschieht“. Wer wissen will, ob das PEI oder Kubicki recht haben, muss Kapitel 10 im Buch lesen.
Dr. med. Karsten Braun, LL. M.
BVOU Referat Presse/Medien.