Die Gesundheitsversorgung steht vor zahlreichen Herausforderungen, die sich in den kommenden Jahren weiter zuzuspitzen drohen. Erst zu Beginn des Jahres ist die finanzielle Belastung für Versicherte und ihre Arbeitgeber noch einmal deutlich gestiegen. Ohne schnelle politische Maßnahmen ist ein Ende der Beitragssatzsteigerungen nicht in Sicht. Zudem leben wir in einer immer älter werdenden Gesellschaft mit entsprechenden Auswirkungen auf Morbidität und Pflegebedürftigkeit. Gleichzeitig fehlt es an vielen Stellen im Gesundheitswesen bereits jetzt an Fachkräften. Diese Entwicklungen führen dazu, dass der Versorgungsbedarf der Bevölkerung weiter steigt, während die finanziellen und personellen Ressourcen im Gesundheitssystem heute schon an ihre Grenzen kommen. Viele Menschen sorgen sich um die Zukunft ihrer gesundheitlichen Versorgung.
Klar ist: Im Gesundheitswesen sind grundlegende Änderungen notwendig. Die nächste Bundesregierung muss dringend handeln und echte Reformen anstoßen. Das gilt auch für die ambulante Versorgung, wo Behandlungspfade oft nicht optimal verlaufen. Hier sieht auch eine große Mehrheit der Bevölkerung Handlungsbedarf: 87 Prozent der Menschen in Deutschland ist wichtig, dass eine schnellere Terminvergabe bei Haus- und Facharztpraxen einen hohen Stellenwert in der Gesundheitspolitik der nächsten Jahre hat.
Der Weg in die Versorgung – aktuell keine Frage des medizinischen Bedarfs
Ob Haus- oder Facharztpraxis, Bereitschaftspraxis, Terminservicestelle oder digitale Angebote: Wer ein gesundheitliches Problem hat, kann in unserem Gesundheitssystem theoretisch viele verschiedene Wege einschlagen, um medizinische Betreuung zu erhalten. Praktisch hängt der Weg durch die kleinteilige Versorgungslandschaft heute jedoch zu oft von historisch gewachsenen Strukturen oder gar von Zufällen ab. Viele Patientinnen und Patienten klagen über Schwierigkeiten, zeitnah ambulante Termine zu bekommen. Gleichzeitig beschäftigen zahlreiche vergleichbar leichte Fälle die Ärztinnen und Ärzte in den Praxen. In der Folge wachsen die Wartezeiten auch für Patientinnen und Patienten mit komplexeren Beschwerden.
Die Ursachen liegen vor allem in den bekannten Schwächen des Gesundheitswesens: keine passgenaue Versorgung sowie mangelnder Informationsaustausch. Die Konsequenz sind häufige Arztbesuche und überfüllte Notaufnahmen. Für die Menschen ist das Aufsuchen verschiedener medizinischer Anlaufstellen oft schlichtweg ein Ausdruck des Mangels an Orientierung und Sorge. Den eigenen Behandlungsbedarf und dessen Dringlichkeit richtig einzuschätzen ist für medizinische Laien kein einfaches Unterfangen. Patientinnen und Patienten brauchen daher mehr Orientierung in unserem leider zu undurchsichtigen und komplexen System.
Es gilt daher, nun Antworten auf zahlreiche Fragen zu finden: Welche Hebel und Ansatzpunkte haben wir, um die ambulante Versorgung zukunftsfest zu machen? Wie können Ärztinnen und Ärzte besser entlastet werden? Wie erreichen wir das Ziel einer ebenso effizienten wie bedarfsgerechten Versorgung? Wie kann ein Versorgungssystem aussehen, in dem Patientinnen und Patienten endlich zur richtigen Zeit in die für sie richtige ärztliche Versorgung kommen? Angesichts der unbefriedigenden Situation für Praxen und Patienten, muss die Politik hierfür Lösungen entwickeln – auch wir bei der TK haben dazu schon Ideen.
Digital vor ambulant vor stationär
Das Ziel muss sein: Wer dringend medizinische Betreuung braucht, soll diese sicher und schnell erhalten. Außerdem müssen die wertvollen Kapazitäten des medizinischen Personals sowie der Ärztinnen und Ärzte endlich besser und effizienter genutzt werden. Daher schlagen wir vor, die Versorgung entlang des Prinzips „digital vor ambulant vor stationär“ zu strukturieren.
Ein erster Schritt muss demnach sein, den Versorgungsbedarf einer Patientin oder eines Patienten digital zu ermitteln – noch bevor überhaupt ein Arzttermin vereinbart wird. Dafür braucht es eine digitale Ersteinschätzung, die einen passenden Behandlungspfad empfiehlt – orientiert am jeweiligen medizinischen Bedarf. Die Entwicklung eines solchen Tools sollte unserer Sicht der gemeinsamen Selbstverwaltung aus Ärzteschaft und Krankenkassen obliegen. Das Ziel: Ein standardisiertes Tool, das sowohl online, vor Ort am Praxistresen oder in den neu zu schaffenden Integrierten Notfallzentren (INZ) eingesetzt wird. Dieser vorgelagerte Schritt bietet den Patientinnen und Patienten die nötige Orientierung im Gesundheitssystem, nimmt Unsicherheit und führt sie schneller in die für sie richtige Versorgungsform: je nach Notwendigkeit in eine digitale Selbstversorgung, zum Haus- oder Facharzt.
Nicht immer ist das klassische Arzt-Patienten-Gespräch in der Praxis nötig. Insbesondere bei leichten Beschwerden, wie Erkältungen & Co. können digitale Angebote, wie DiGAs, Apps oder telemedizinische Chats, bereits gut unterstützen. Wer eine dringliche Behandlung benötigt, erhält dafür über eine digitale Terminplattform schnell einen Termin: Dafür müssen Arztpraxen verschiedener Fachgruppen feste Terminkontingente auf einer zentralen digitalen Plattform zur Verfügung stellen.
Diese Ansätze bringen Vorteile für alle Beteiligten mit sich: Patientinnen und Patienten können so schneller die erforderliche Hilfe erhalten. Und in den Arztpraxen kommen diejenigen an, die dort auch gut behandelt werden können, sodass die Ärzteschaft entlastet wird und mehr Zeit für komplexe Fälle hat. Das steigert wiederum die Versorgungsqualität insgesamt.
Mehr Ambulantisierung wagen
Darüber hinaus müssen wir auch prüfen, in welchen Fällen eine ambulante Versorgung einer stationären Behandlung grundsätzlich vorgezogen werden kann. Denn der internationale Vergleich macht deutlich: Viele Fälle, die in Deutschland im Krankenhaus landen, könnten auch ambulant behandelt werden. Das zeigt sich in dem hohen Anteil ambulant-sensitiver Krankenhausfälle in Deutschland, also Fällen, die unter anderem durch eine effektive ambulante Versorgung hätten verhindert werden können (IGES-Institut, Berechnung auf Basis der OECD Health Statistics). Hier liegt Deutschland vorne. Ein weiterer Indikator für mehr Ambulantisierung: Die Anzahl der sogenannten Kurzlieger-Fälle, also Patientinnen und Patienten die ein bis drei Tage stationär behandelt werden. In deutschen Krankenhäusern haben die Kurzlieger-Fälle in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Ihr Anteil betrug 2022 fast 50 Prozent aller Krankenhausfälle, im Jahr 2000 waren es noch rund 27 Prozent (IGES-Institut, basierend auf Daten des statistischen Bundesamtes). Das zeigt, dass viel mehr Fälle künftig grundsätzlich ambulant versorgt werden könnten – sei es in einer ambulanten Klinik oder in einer fachärztlichen Praxis. Für viele Patientinnen und Patienten ist es angenehmer, nach einer Behandlung zuhause zu genesen. Und in den Krankenhäusern kann der Fokus dann auf schwereren Fällen liegen. Die Verlagerung in den ambulanten Sektor spart auch Kosten in der Versorgung ein.
Versorgung gemeinsam besser strukturieren
Mehr Zielgenauigkeit und Effizienz sind also gefragt – zum Wohle der Patientinnen und Patienten, des medizinischen Personals und des gesamten Gesundheitssystems. Dafür brauchen wir grundlegende Veränderungen in unseren Versorgungsstrukturen – insbesondere was den Zugang betrifft. Dafür müssen wir Ideen und Ansätze zusammentragen. Wir in der TK sind bereit, gemeinsam mit weiteren Akteuren tragfähige Lösungen zu finden.
Thomas Ballast
stellvertretender Vorstandsvorsitzender der TK