Die Bewegungsanalyse spielt eine entscheidende Rolle in der Orthopädie und der Orthopädietechnik (OT). Sie dient dazu, Bewegungsabweichungen zu erkennen, operative, konservative und technische Therapiekonzepte zu überprüfen und die nötigen therapeutischen Konsequenzen abzuleiten.1, 2 Sowohl die visuelle Beobachtung per Video als auch die instrumentelle Analyse sind dabei von Bedeutung.
In der Orthopädietechnik ist es ohnehin immer erforderlich, eine Beobachtung der Person mit ihrem Hilfsmittel zur Anprobe und Abnahme durchzuführen. Es bietet sich daher an, die Beobachtung in einer strukturierten Form vorzunehmen, wie es die Bewegungsanalyse vorsieht. Zum Beispiel kann man die Beobachtungen nach dem Gangzyklus einteilen. Ein strukturiertes Vorgehen ist unabhängig davon, ob man einen hohen messtechnischen Aufwand betreibt oder „nur“ ein Video aufnimmt. In den letzten Jahrzehnten hat insbesondere die instrumentelle 3D-Ganganalyse dazu beigetragen, ein tieferes Verständnis der menschlichen Bewegung zu entwickeln und die Entstehung von neuen technischen Lösungen in der Exoprothetik und Orthetik zu unterstützen. Die visuelle Beobachtung bleibt jedoch essenziell, insbesondere im Versorgungsalltag. Denn bei der Anprobe können durch Veränderungen am Hilfsmittel biomechanisch relevante Änderungen im Gangbild auftreten. Jedoch gibt es für das Video auch Limitationen, da nicht alle biomechanischen Aspekte rein visuell erfasst werden können. Zur genauen Quantifizierung von Gelenkwinkeln, Gelenkreaktionen (Gelenkmomente und -leistungen) sowie Muskelaktivität sind instrumentelle Methoden erforderlich. Typischerweise werden Motion-Capture-Systeme, Kraftmessplatten und Elektromyographie / EMG-Systeme eingesetzt.1, 3 Die instrumentelle 3D-Ganganalyse fasst diese verschiedenen Methoden in einem Protokoll zusammen. Dieses Verfahren wird bereits seit vielen Jahren im Bereich neurologischer Gangstörungen, wie zum Beispiel bei Menschen mit Cerebralparese, eingesetzt, um ihre Gangfunktion zu dokumentieren und aufwändige orthopädische Mehretageneingriffe zu planen.4 Für die Orthopädietechnik kann man sich an den Erfahrungen im Bereich der neurologischen Gangstörungen orientieren, um Protokolle für instrumentelle Bewegungsmessungen zu erarbeiten. Das grundlegende Vorgehen bei neurologischen und muskuloskelettalen Gangstörungen umfasst eine ausführliche Anamnese, standardisierte Videobeobachtung und instrumentierte Beobachtungen mittels optoelektronischer Systeme oder anderen Methoden (z. B. Beschleunigungssensoren). Die instrumentelle Analyse ermöglicht die Objektivierung verschiedener Parameter wie Schrittlänge, -dauer, -weite, Gehgeschwindigkeit, Gelenkwinkel, Bodenreaktionskräfte, Gelenkmomenten und Gelenkleistungen. Die Anamnese und klinische Untersuchung sind entscheidend, um physiologische Ursachen für Gangabweichungen zu identifizieren.
Eine visuelle Analyse, unterstützt durch Videoaufnahmen, ermöglicht eine kostengünstige und unauffällige Beobachtung. Die instrumentelle 3D-Ganganalyse liefert detailliertere biomechanische Informationen. Bei der visuellen, videogestützten Analyse sind bestimmte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Durchführung zu beachten. Dazu gehören ausreichende Helligkeit, die Größe des Raums sowie die Ausrichtung der Kameras in der Frontal- und Sagittalebene auf Stativen. Im Idealfall sollten beide Ebenen synchron aufgenommen werden.5 Moderne Videotechnik ermöglicht mittlerweile hochauflösende Aufnahmen mit hohen Frequenzen, die nahezu jedes Smartphone bieten kann. Daher sind hochwertige Videodokumentationen heutzutage leichter als je zuvor anzufertigen und können nahezu immer erstellt werden.
Funktionelle Tests wie der 2/6/12-Minuten-Geh-Test, der Timed Up and Go Test, der L-Test und der Four Square Step Test bieten weitere Einblicke in die Leistungsfähigkeit und Einschränkungen von Patienten.6–8 Solche Tests sind mit geringem instrumentellem Aufwand durchzuführen (Stoppuhr, Maßband, Die Bewegungsanalyse zur Bewertung von Hilfsmitteln in der Technischen Orthopädie Forschungslabor der Bewegungsanalytik, Klinik für Orthopädie, Universitätsklinikum Heidelberg Gymnastikstäbe usw.) und ermöglichen es, den Rehabilitationserfolg bzw. -verlauf zu dokumentieren und die Patienten zu motivieren. Zusätzlich können patientenberichtete Ergebnismaße (PROMs) eine wichtige Rolle spielen, um die Lebensqualität und Einschränkungen im Alltag zu erfassen. Beispiele hierfür sind die Maße PSFS (Patient Specific Functional Scale), QUEST (Quebec User Evaluation of Satisfaction with Assistive Technology), SAT-PRO (Satisfaction with Prosthesis Questionnaire) und SCS (Socket Comfort Score).9–11 Die ISPO (International Society of Prosthetics and Orthotics) hat Empfehlungen für einen Kerndatensatz im Bereich der Prothetik der unteren Gliedmaßen veröffentlicht. Diese Empfehlungen wurden im Rahmen eines Konsensprozesses erarbeitet und sind Teil des COMPASS (Consensus Outcome Measures for Prosthetic and Amputation Services).
Zusammenfassend ermöglicht die Bewegungsanalyse in der Orthopädietechnik eine fundierte Entscheidungsfindung auf Basis von Evidenz, um die Versorgung von Menschen mit Gangstörungen zu optimieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Dieser Beitrag soll alle Interessierten inspirieren, sich für weitere Informationen an die deutschsprachigen (GAMMA / https://www.g-a-m-m-a.org/) und englischsprachigen Fachgesellschaften (ESMAC / https://esmac.org/) zu wenden. Das Thema kann in einem kurzen Artikel nur bedingt umrissen werden. Diese Gesellschaften bieten regelmäßig Kurse und Kongresse an, in denen die Thematik umfassend behandelt wird. In der OT sind auch gesetzliche Vorgaben zu beachten, wie beispielsweise die Kontrolle von Hilfsmitteln nach ihrer Markteinführung (Post Market Surveillance), die von der Medical Device Regulation gefordert wird. Diese Vorgaben betonen die Notwendigkeit einer strukturierten Dokumentation, die durch instrumentelle und videobasierte Methoden unterstützt werden kann.
Literatur auf Anfrage bei der Redaktion.