Berlin – Genauso wichtig wie fachliche Information ist der Dialog mit der Leserschaft unserer Kommunikationskanäle wie Facebook. Ein respektvolles Miteinander ist wie überall die Grundlage für einen konstruktiven Dialog. Im Oktober publizierte der BVOU auf Facebook einen auf Orthinform veröffentlichten Beitrag mit dem Titel „Rückenschmerzen: Den Ursachen auf der Spur“. Der Beitrag wurde von Dr. Karl-Heinz Conrad aus Bayern verfasst.
Unter dem Post mit dem verlinkten Beitrag zu Orthinform entwickelte sich rasch eine Diskussion. Wir luden daraufhin Kommentator und Physiotherapeut Matthias Straub ein, selbst einen Beitrag zum Thema Rückenschmerz zu verfassen. Das Angebot nahm Herr Matthias Straub an und schickte dem BVOU einen Text zu.
Dr. Burkhard Lembeck (BVOU-Landesvorsitzender Württemberg und DKOU-Kongresspräsident 2020) kommentierte freundlicherweise den Beitrag woraufhin ein Schriftverkehr zwischen ihm und Matthias Straub entstand. Auszüge zu einigen verfassten Thesen geben wir hier wieder:
Artikel von Matthias Straub:
Was sind Rückenschmerzen? – Eine aktuelle Betrachtung
Inhaltsverzeichnis
- Allgemeines: Häufigkeit, Kosten und Verlauf
- Ursachen von Rückenschmerz
- Unterteilung der Rückenschmerzen
- Therapie der Rückenschmerzen
- Literaturverzeichnis
1 Allgemeines
Rückenschmerz ist die grösste Ursache für Beeinträchtigungen und Beschwerden weltweit (1). In einem Zeitraum von einem Jahr leiden 37% der Erwachsenen darunter. Es sind mehr Personen in der Lebensmitte und mehr Frauen als Männer davon betroffen (2). Unter Rückenschmerzen, die länger als 3-6 Monate dauern, leiden 19.6% der 20- bis 59-Jährigen und 25.4% der über 60-Jährigen (3). Der Trend um die Jahrtausendwende tendiert hin zu einer ansteigender Zahl an Patienten mit chronischen Rückenschmerzen (4). Die zunehmenden Kosten belasten nicht nur das Gesundheits-, sondern auch die Sozialsysteme (5). Hier geht es zum ganzen Artikel
Kommentar von Dr. Lembeck (klicken Sie auf den Pfeil, um den ganzen Kommentar zu lesen)
Sehr geehrter Herr Straub,
zunächst einmal besten Dank für Ihren konstruktiven Beitrag zum Thema Rückenschmerz – ein Thema, das Physiotherapeuten und Orthopäden gleichermaßen in hohem Maße beschäftigt. In orthopädischen Praxen in Deutschland ist Rückenschmerz sogar das dominante Thema, denn über 50 Prozent der Vorstellungen erfolgen deswegen. (…)
In ihrer Betrachtung ” Was sind Rückenschmerzen? Eine aktuelle Betrachtung” fassen Sie viele Kernbotschaften zu Ätiologie, Unterteilung und Therapie usw. zusammen. Ihre Betrachtung entspricht weitgehend den beiden in Deutschland maßgeblichen nationalen Versorgungsleitlinien zum Thema nichtspezifischer und spezifischer Rückenschmerz. Zu beiden Leitlinien informieren wir auch in unserem Patientenlexikon – insofern besteht hier überhaupt kein Dissens.
Ihre Betrachtung möchte ich aber gerne um ein paar kleine Bemerkungen ergänzen. Ich erlaube mir das, da ich schon langjährig im Bereich Versorgung von Rückenschmerz unterwegs bin, die Erstellung von Leitlinien mitverfolgt habe, viele Verträge zum Thema ausgearbeitet habe und in den entsprechenden Gremien auf Bundesebene vertreten bin. Verstehen Sie diese Bemerkungen bitte eher als Anregung zum Nachdenken denn als destruierende Kritik – als die Ergänzungen aus meiner Erfahrung, die Ihnen ( der Sie als Student der Physiotherapie vermutlich am Anfang Ihrer wisschenschafltichen Karriere stehen) evtl. nützlich sein können.
Im Folgenden möchte ich daher ein paar Thesen zum Thema Rückenschmerz aufgreifen, die in Ihrer Betrachtung, in der allgemeinen Versorgungsdebatte, immer wieder auftauchen und wiederholt werden, wobei es lohnen würde, sie auf ihren Wahrheitsgehalt kritisch zu hinterfragen:
1. Allgemeines
These: “Rückenschmerzen sind von überragender wirtschaftlicher Bedeutung. Rückenschmerzen sind eine Epidemie, deren Kosten die Gesundheitssysteme an den Rand ihrer Belastbarkeit bringen” Antithese: Rückenschmerzen sind zwar häufig, aber weitgehend harmlos – ihre direkten Kosten sind mit denen anderer Erkrankungen absolut vergleichbar. ” Begründung: Niemand würde auf die Idee kommen zu behaupten, grippale Infekte brächten das Gesundheitswesen zum Erliegen. Rückenschmerzen verlaufen aber in den meisten Fällen nicht anders als grippale Infekte.
Epidemiologisch betrachtet ( z.B RKI Telefonsurvey), geben zwar 80% der Befragten an, dass sie schon mal RS gehabt haben, aber wer hätte nicht auch schon grippale Infekte gehabt? Versorgungstechnisch werden Rückenschmerzen zu 98% ambulant behandelt, auch diese Kosten sind absolut beherrschbar. Analysiert man die Ausgaben der GKV für diese ambulante Versorgung näher, dann zeigt sich, dass im Bereich Orthopädie und Unfallchirugie 4,4 Mrd. für Physiotherapie, 3,4 Mrd. für hausärztliches und 1,5 Mrd. für orthopädisches Honorar ausgegeben werden. ( Quelle: KBV Honorarbericht, destatis).
Die Kosten für den stationären Bereich entsprechen im Übrigen dem ambulanten Bereich, obwohl 95 % der Patienten ambulant behandelt werden. Für das gesamte Gesundheitssystem der Bundesrepublik gilt, dass die Kosten in den letzten Jahren bei ziemlich genau 11% des BIP liegen, von einer Kostenexplosion kann momentan keine Rede sein. Die Herausforderung für das Gesundheitssystem besteht beim RS wie beim grippalen Infekt darin, die gefährlichen Verläufe zu erkennen. Das sind beim grippalen Infekt Pneumonien usw. ( mit hoher Letalität) beim RS die Chronifizierungen.
2. These zur Unterteilung “Rückenschmerzen kann man in spezifisch und nichtspezifisch unterscheiden, zu 90% (Prozent=weg) sind RS nichtspezifisch ” Antithese: “Diese Unterteilung widerspricht dem biopsychosozialen Krankheitsmodell – ein nichtspezifischer Rückenschmerz ist ein Widerspruch in sich selbst”
Das biopsychosoziale Krankheitsmodell besagt, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren bei der Krankheitsentstehung (aller) Erkrankungen (immer) eine Rolle spielen. Es ist daher völlig unverständlich, warum man Rückenschmerzen in nichtspezifische ( bei denen biologische Faktoren keine Rolle spielen sollen) und spezifische ( bei denen sie die alleinige ) Rolle spielen sollen, klassifizieren kann. Bei der Ätiologie des Rückenschmerzes wird eine Dichotomie zwischen Psyche und Soma postuliert, die insbesondere allen neueren Erkenntnissen der Psychosomatik diametral widerspricht. Selbstverständlich spielen auch biologische Ursachen beim sogenannten nichtspezifischen Rückenschmerz eine überragende Rolle und auf der anderen Seite spielen natürlich auch psychosoziale Faktoren beim Krankheitsverlauf eines Patienten mit radikulärer Wurzelkompression eine Rolle. Sie erkennen das sehr leicht darin, dass in den Studien zum chronischen nichtspezifischen Rückenschmerz multimodale Behandlungskonzepte und nicht rein verhaltenskognitive oder usual care der sogenannte “goldene Standard” sind.
Wenn die Einteilung aber schon theoretisch nicht haltbar ist, ist sie hinfällig. Wussten Sie übrigens, wie es zu der Aussage gekommen ist, 90% der RS seien nichtspezifisch? Man hat die ICD Diagnosen beim Rückenschmerz unterteilt in nichtspezifisch ( z.B M54.9 Lumbago, aber auch die ICD M42.9für Osteochondrose ) und spezifisch ( z.B. Bandscheibenvorfall M51.1) sortiert und dann geschaut, wie sie sich verteilen. Wenn Sie wissen, wie die Verschlüsselung in den Arztpraxen gehandhabt wird, dann verlieren Sie spätestens jetzt den Glauben an Studien mit Sekundärdaten…
3. These “Es gibt Klassifikationsmodelle, die eine resourcengerechte Allokation beim Rückenschmerz erlauben und damit ein besseres Outcome” Antithese: ” Bis heute gibt es sowas nicht” Im Laufe der Jahre tauchen immer wieder Klassifikationen auf, die Strategien suchen, um Über- und Unterversorgung zu meiden. Meistens handelt es sich um Fragebögen, z.B. chronic pain grade ( von Korff), Heidleberger HeidelbergerKurzfragebogen, Örebroö, START Tool . Bei Ihnen ist es das Modell nach O Sullivan. Auf die Gefahr hin, einen jungen motivierten Studenten der Physiotherapie hin zu frustrieren, kann ich nur sagen, dass bisher alle Ansätze ausserhalb von Modellen krachend gescheitert sind.
Ganz d’accord bin ich, eine individuelle Strategie zu wählen – wir Ärzte und Therapeuten müssen (und das ist die Kunst) schauen, welcher der drei Faktoren bei diesem Patienten die gewichtige Rolle spielt, welche funktionellen Auswirkungen das hat ( Einsatz der Resourcen, Vermeidung von Überversorgung) und wie wir dann vorgehen. Wir Orthopäden und Sie als Physiotherapeut, haben (wir) da den unschätzbaren Vorteil, dass wir als “Biomediziner” eine hohe Akzeptanz bei den Patienten besitzen – uns fällt der Zugang viel leichter als z.B. Psychotherapeuten, deren Hinzuziehung oft schwer fällt, weil sie häufig Abwehrhaltungen provozieren.
Und selbstverständlich bleibt es unsere primäre Aufgabe, nach den möglichen biologisch-strukturellen Ursachen zu schauen, so wie es der Kollege Conrad in seinem Artikel getan hat. Er führt ja gerade aus, dass neben Bewegungsmangel, psychischen Belastungen usw. auch eine Beinlängendifferenz die Ursache von Rückenschmerzen sein kann, die Betonung liegt auf kann, aber nicht muss. Das entspricht der Beobachtung, dass eine radiologisch festgestellte Gonarthrose die Ursache von Kniegelenksbeschwerden sein kann, aber nicht sein muss – eine orthopädische Binse sozusagen. Wir behandeln keine Röntgenbilder sondern Menschen.
Aber selbstverständlich kann es absolut sinnvoll sein, eine Beinlängendifferenz von zwei Zentimentern mittels Sohlenausgleich zu beheben – und auch das ist kein Mythos, vielen Patienten ist dadurch rasch geholfen. Auch lenkt Kollege Conrad den Blick auf internistische Erkrankungen, die Ursache von Rückenschmerzen sein können, auch dies im Sinne einer holistischen Betrachtung sicher sinnvoll.
Lieber Herr Straub, die Behandlung chronischer Rückenschmerzen kann frustrierend sein – lassen Sie sich nicht entmutigen- bewahren Sie sich einen ganzheitlichen Blick, vertrauen Sie auf Ihre Erfahrung, lassen Sie die neuesten Studien mit einfließen, aber bleiben Sie dem allen gegenüber im Sinne der Dialektik kritisch, dann wird ihr Berufsalltag erfüllend sein, denn sowohl Ärzte als auch Physiotherapeuten haben gegenüber vielen anderen Berufen einen Vorteil – wir haben es oft mit dem Dank unserer Patienten zu tun.
Wir bedanken uns sowohl bei Herrn Straub, als auch bei Herrn Lembeck, dass sie aus einer launigen Kommentar-Struktur eine Diskussion mit gegenseitigem Respekt auf Augenhöhe entstehen ließen. im weiteren Schriftwechsel tauschten beide Beteiligten noch weitere Argumente über die Thesen aus. Für uns ist allerdings an dieser Stelle die Grenze unserer Medien erreicht und rufen dazu auf, gerne im Rahmen eines Kongresses oder Podiumdiskussion die Ansichten von Physiotherapeuten und Orthopäden zu diskutieren.