Das Zeitalter der Digitalisierung wird, in Anlehnung an die Industrie, in unserem Bereich als „Medizin 4,0“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde durch „Medizin 5.0“, das Zeitalter der künstlichen Intelligenz (KI), abgelöst. Wobei abgelöst hoch gegriffen formuliert ist und eine Verschiebung der Schwerpunkte bzw. eine andere Fokussierung diese Vorgänge wohl besser beschreibt. Schon länger im Alltag angekommen und bewusst oder unbewusst genutzt, ist der Begriff KI spätestens seit der Veröffentlichung von ChatGPT deutlicher in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Die Reaktionen der Öffentlichkeit von hohen Erwartungen über Heilsversprechen bis hin zu Warnungen vor nicht absehbaren Folgen spiegeln die Bandbreite der Möglichkeiten, die inhärenten Risiken und die vielfältigen unterschiedlichen Interpretationsvarianten bei der Nutzung von KI-Anwendungen wider.
Auch in die Medizin haben KI-Anwendungen Einzug erhalten. Deren Einsatz verspricht neue Wege und Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie zum Wohle des Patienten. Verbesserung der Patientensicherheit und der Behandlungsergebnisse, Reduktion von Komplikationen und Nebenwirkungen, Steigerung der Lebensqualität und Gewinn von Zeit sind in diesem Zusammenhang immer wieder genannte Ziele. Jedoch stellen die damit verbundenen rechtlichen Risiken, regulatorischen Hürden und resultierende ethischen Fragen eine mindestens genauso große Herausforderung dar, wie die Anwendung Möglichkeiten erschließt.
Der Einsatz von kontrolliert trainierten KI-Algorithmen scheint das schon lange angestrebte Ziel einer personalisierten Medizin greifbarer zu machen. Das konkret definierte Ziel ist dabei die optimale Behandlung zugeschnitten auf den einzelnen individuellen Patienten. Dem zu Grunde liegt ein schon als Paradigmenwechsel zu bezeichnender Ansatz, nämlich Erkrankungen als einzigartige Situationen im Leben jeder Person als einzigartiges Individuum mit all seinen Besonderheiten zu betrachten und somit Erkrankungen nicht mehr als zu verallgemeinernde Zustände anzusehen.
Im Bereich der Diagnostik hat die KI die ersten Schritte der Translation in den klinischen Alltag bereits geschafft. Beispielhaft genannt sei die automatisierte Analyse in der Bildgebung oder die Analyse von Veränderungen der menschlichen Haut. Dies sind Anwendungen, welche die Ärzteschaft heute schon unterstützen können. Hier kommen die Möglichkeiten eines großen Bereiches der KI, des s.g. „machine learning (ML)“, auf der Grundlage großer trainierter Datenmengen Muster oder Anomalien erkennen zu können, besonders zum Tragen. Auch im Bereich der Spracherkennung und Sprachübersetzung, einem anderen wichtigen Bereich der KI, des s.g. „natural language processing (NLP)“ bzw. „neural machine translation (NMT)“, sind große Fortschritte in automatisierter Befund- sowie Brieferstellung als auch in der Übersetzung zu verzeichnen.
In der Aus- und Weiterbildung hat sich die „Virtual Reality (VR)“ als Übungs- und Trainingsalternative im Sinne eines Zwischenschrittes zwischen Theorie und der Anwendung am Patienten etabliert. Hier kann im virtuellen Raum und in 3D von den Grundlagen der Anatomie bis hin zu Operationen vieles simuliert und trainiert werden.
„Augmented Reality (AR)“ befindet sich aktuell noch im Stadium der Erprobung, aber sie verspricht z.B. die intraoperativen Navigationsmöglichkeiten grundlegend zu erweitern. Vom Patienten erstellte 3D Datensätze können dabei mit dem realen Bild des Patienten kombiniert werden, wodurch diese Zusatzinformationen direkt in den operativen Prozess einfließen können.
Große Hoffnungen werden mit denen sich noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase befindlichen „decision support systems“ verbunden. Systeme, die prädiktive Aussagen zum Erkrankungsbild machen können oder in der Lage sind, Entscheidungen des Arztes hinsichtlich notwendiger Diagnostik bzw. Therapie zu unterstützen. Dies ist bei klinischen Entscheidungen, die ja überwiegend multifaktoriell sind und für den individuellen Patienten mit seinen Besonderheiten getroffen werden müssen, von Relevanz. Neuronale Netze können dafür mit großen Datenmengen unter wissenschaftlicher Kontrolle bezüglich spezifischer Fragestellungen trainiert werden und somit die Entscheidungsfindung in der Patientenbehandlung unterstützen. Dazu liegen erste erfolgversprechende Ergebnisse vor.
Die oben nur angerissenen Möglichkeiten weisen schon auf die damit verbundenen rechtlichen und ethischen Fragen hin, die sich aus der Anwendung von KI-Systemen ergeben. Die erforderlichen großen Datenmengen und deren Verarbeitung führen zu Fragen nach Datenschutz, Datenverwertung und den Rechten an Daten bei industrieller Anwendung solcher Systeme. Ethische Fragen wie die nach der Verantwortung bei der Entwicklung, der Datensicherheit (cave: „verzerrte Algorithmen“), der Einbindung und Aufklärung der Patientinnen und Patienten und Fragen nach der Verantwortlichkeit des einzelnen Anwenders im konkreten Fall müssen beantwortet werden. Dies braucht Fingerspitzengefühl, um Überregulierung und überbordende Bürokratie als Entwicklungshindernisse zu vermeiden.
Erforderlich ist ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs, um einen rechtlichen und ethischen Rahmen zu schaffen, der diese Anwendungen fachlich und wissenschaftlich abgesichert zum Nutzen der Patienten ermöglicht. Dies kann nur ein kontinuierlicher Prozess sein, um den schnellen Entwicklungen auf diesen Gebieten gerecht werden zu können.
Die Fortschritte der Medizin sind vielfältig und rasant. Digitalisierung, KI-Anwendungen, klinische- und Laborforschung ebenso wie Versorgungsforschung sind nicht wirklich zu trennen, profitieren voneinander und verstärken sich gegenseitig. Für unser Fachgebiet seien stellvertretend die Fortschritte in der präoperativen Planung, der Navigation, beim 3D-Druck, die ersten Schritte in der Robotik sowie individualisierte Implantate genannt.
Dabei führt der kometenhafte Höhenflug in der Entwicklung der KI zu sowohl berechtigten Hoffnungen als auch zu ebenso berechtigten Ängsten.
Der aktuelle Infobrief nimmt zu einigen dieser Fragen nachfolgend Stellung. Dazu konnten Expertinnen und Experten gewonnen werden, die auf diesen Gebieten in der Forschung aktiv sind und klinisch dazu arbeiten. Ebenso wird von kompetenter Seite auf die rechtlichen Rahmenbedingungen eingegangen.
Wir hoffen, Ihnen damit einige hilfreiche Informationen zur KI in der Medizin im Allgemeinen und in unserem Fachgebiet im Speziellen geben zu können und Sie zur weiteren Beschäftigung mit diesen spannenden Fragen anzuregen.
Viel Spaß beim Lesen dieses Infobriefes,
Prof. Dr. med. Christoph – E. Heyde PD Dr. med. Anna Völker