Integrierte Versorgung (IV), sektorübergreifende Zusammenarbeit und Selektivverträge – diese Stichworte werden in der Orthopädie und Unfallchirurgie im Kontext einer Optimierung der Patientenversorgung und besseren Honorierung der fachärztlichen Leistungen zunehmend diskutiert, so auch auf dem diesjährigen DKOU. BVOU.net sprach im Vorfeld des Kongresses mit Dr. Johannes Flechtenmacher, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Präsident des BVOU, über die Vorteile integrierter Versorgungsformen, bereits vorhandene Selektivverträge im Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie und die Hürden des derzeitigen Gesundheitssystems.
BVOU.net: Dr. Flechtenmacher, die individuelle, interdisziplinäre und sektorübergreifende Versorgung von Patienten gewinnt zunehmend an Bedeutung, auch in der Orthopädie und Unfallchirurgie. Welche Hürden gibt es dafür allerdings derzeit noch im Gesundheitssystem und welche Möglichkeiten existieren, um eine solche Versorgung zu realisieren, Stichwort IV-Verträge?
Dr. Johannes Flechtenmacher: Das zentrale Problem, das wir derzeit haben, ist die Ausrichtung des Gesundheitssystems auf Akutkrankheiten, Stichwort „Cure statt Care“. Zudem ist unser Versorgungssystem ein fragmentiertes, mit Kooperationsproblemen belastetes System, das gekennzeichnet ist durch Informationsdefizite und häufige Doppeluntersuchungen. Demgegenüber haben wir in der Gesellschaft allerdings die Erwartung, dass die Patienten mit einer sehr hohen Qualität und nach Möglichkeit evidenzbasiert behandelt werden sollen. Möchte man nun diese drei Problempunkte angehen, so muss man sich fragen, ob das bisherige Versorgungssystem und die darin verwendeten Kollektivverträge dafür der richtige Weg sind.
IV-Verträge bieten hier die Möglichkeit, Kooperationsformen und deren Schwerpunkte klar zu definieren und damit die Struktur und Qualität der Patientenversorgung zu verbessern. Als Fachgruppe, die sich um muskuloskelettale Erkrankungen, wie Rückenschmerzen, Arthrose, Osteoporose und Rheuma sowie Unfallverletzungen kümmert, haben die Orthopäden und Unfallchirurgen hierbei natürlich einen sehr wichtigen Auftrag. Denn diese Erkrankungen und Verletzungen kosten die Gesellschaft viel Geld und müssen dementsprechend in Angriff genommen werden.
Inwiefern finden sektorübergreifende Versorgungsformen und IV-Verträge in der Orthopädie und Unfallchirurgie derzeit bereits Anwendung?
Man muss hier verschiedene Formen der integrierten Versorgung im Sinne von Selektivverträgen unterscheiden. Hierbei gibt es beispielsweise die sogenannten 140a-Verträge nach dem Sozialgesetzbuch 5, die das Ziel haben, die ambulante und die stationäre Versorgung zu verzahnen. Dies sind Verträge, die auf bestimmte Versorgungsformen oder Diagnosen abzielen, zum Beispiel ambulante Operationen oder Schmerztherapie. Diese 140a-Verträge kommen auch im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie zur Anwendung.
Eine weitere Form sind die sogenannten 73c-Verträge, also fachärztliche Verträge, im Sozialgesetzbuch 5. Hier wird die Versorgung für einen bestimmten Versorgungsbereich, in unserem Fall Orthopädie und Unfallchirurgie, komplett geregelt. Leider ist der 73c-Vertrag in Deutschland der einzige Vertrag für die komplette fachärztliche Versorgung und diesen gibt es nur in Baden-Württemberg. An dieser Vertragsform, die in dem Bundesland sehr erfolgreich ist, beteiligen sich über 500 Orthopäden, Unfallchirurgen und Chirurgen.
Inwiefern profitieren die teilnehmenden Ärzte und Patienten von solchen Vertragsformen?
Die Patienten profitieren, da diese Versorgungsverträge, zum Beispiel der 73c-Vertrag, so strukturiert sind, dass sich der Arzt mehr Zeit für die Beratung seiner Patienten nehmen kann. Wir alle wissen, dass Ärzte sehr wenig Zeit haben und die Kommunikation mit dem Patienten sehr häufig unter diesem Zeitmangel leidet. Diese Verträge sind deshalb so angelegt, dass insbesondere die Beratungsfunktion des Arztes honoriert wird und letztendlich der Patient und dessen Behandlung davon profitieren.
Bei den 140a-Verträgen werden vor allem operative Leistungen besser bezahlt. Auch dies hat klare Vorteile für den Patienten, da auf diese Weise viele Operationen, die üblicherweise nur im Krankenhaus gemacht werden, auch ambulant durchgeführt werden können. Dies hat den Vorteil, dass die Versorgung schneller funktioniert und der Patient deshalb auch schneller wieder auf die Beine kommt. Somit sind beide Vertragsformen vorteilhaft für den Patienten und letztendlich auch für den Arzt, dessen Leistungen besser honoriert werden.
Was müsste aus Ihrer Sicht noch passieren, um solche Vertragsformen deutschlandweit besser zu implementieren?
Es fehlt leider das Verständnis über die Notwendigkeit solcher Vertragsformen, vor allem bei Krankenkassen. Es ist natürlich schwer, eingefahrene Verwaltungsstrukturen zu verändern. Viele verbleiben hier einfach in ihrer Denkweise, möglichst nichts an den etablierten Strukturen zu verändern und erkennen zudem meist nicht die Möglichkeiten zur Verbesserung der Patientenversorgung durch solche Vertragsformen. Nichts desto trotz gibt es allerdings auch positive Beispiele, wie das aus Baden-Württemberg, bei dem sowohl Patienten wie auch Ärzte und Krankenkassen davon profitieren. Die AOK Baden-Württemberg hat hier viel eindeutigen Zuspruch von den Patienten erhalten und hat dadurch auch zahlreiche neue Mitglieder gewinnen können.
Wie sieht die sektorenübergreifende Arbeit dann konkret in der Praxis aus du welche Rolle kommt dem Facharzt aus O&U dabei zu?
Also die 73c-Verträge zum Beispiel bauen auf den sogenannten Hausarztverträgen auf. Diese Vertragsformen sind so strukturiert, dass es eine ganz enge Kommunikation zwischen dem hausärztlichen und dem fachärztlichen Sektor gibt. Hierbei werden Schnittstellen und Versorgungsbereiche definiert, um zu klären, wer was zu tun hat und eben auch nicht zu tun hat. Also beispielsweise: wer das Labor abnimmt, wann man das Labor abnimmt, wann eine Überweisung zu erfolgen hat und wie genau die Kommunikation von Hausarzt zu Facharzt und umgekehrt zu erfolgen hat. So kann letztendlich die Behandlung der Patienten effektiv verbessert werden. Es geht hierbei also vordergründig um eine Strukturierung der gemeinsamen Arbeit.
Von Seiten der Orthopädie und Unfallchirurgie geht es bei diesen Versorgungsformen vor allem um die großen orthopädischen Erkrankungen Rückenschmerz, Arthrose, Osteoporose und Rheuma. Hierbei kommt im Speziellen der Beratungsfunktion des Orthopäden und Unfallchirurgen gegenüber dem Patienten eine besondere Bedeutung zu.
Welche Rolle könnten dabei außerdem Verträge zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) zukünftig spielen?
Das ist eine Versorgungsform, die gerade erst in der Entstehung begriffen ist. Hier wissen wir noch relativ wenig darüber, in welcher Form Orthopädie und Unfallchirurgie eingebunden werden können. Wir sind der Meinung, dass zumindest im Hinblick auf die entzündlichen Gelenkerkrankungen die Orthopäden und Unfallchirurgen einen beträchtlichen Beitrag leisten könnten. Allerdings muss man hier erst einmal abwarten, wie sich das Ganze weiter entwickelt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anne Faulmann.
Bild: Dr. Johannes Flechtenmacher (Quelle: privat)