Heidelberg – Die passende Operation – und alles ist gut? Nein, sagt Prof. Dr. Marcus Schiltenwolf: Manche Patientenprobleme sind nicht allein technisch zu lösen. Schiltenwolf bietet gemeinsam mit dem Leiter der AG Psychosomatik der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, Dr. Ulrich Peschel, auf dem DKOU 2016 eine Fortbildung Psychosomatische Grundversorgung an.
BVOU.net: Warum fällt es manchen Ihrer Kolleginnen und Kollegen schwer, die Bedeutung psychosomatischer Fragestellungen auch für das Fach Orthopädie und Unfallchirurgie anzuerkennen?
Schiltenwolf: Vordergründig hängt das damit zusammen, dass Orthopädie und Unfallchirurgie als ein über weite Strecken operativ definiertes Fach davon ausgehen, dass man nach dem klinischen Befund und nach der bildtechnischen Diagnostik weiß, was zum Wohl des Patienten zu tun ist. Das Vertrauen auf eine technische Lösung vieler medizinischer Fragestellungen in Orthopädie und Unfallchirurgie ist nach wie vor überragend. Aber vielen Patienten werden wir mit dem, was wir machen, nicht ganz gerecht. Das ist durch Studien gut belegt.
BVOU.net: Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Schiltenwolf: Ich glaube, dass viele Kolleginnen und Kollegen erst im Laufe ihrer klinischen Tätigkeit bemerken, wie viele Fragestellungen von Patienten nicht einfach technisch zu lösen sind. Erst im Lauf der Zeit entwickelt sich deshalb ein verstärktes Interesse an psychosomatischen oder beziehungsgestaltenden Lösungsmöglichkeiten.
BVOU.net: Beispielsweise dann, wenn ein Operationsergebnis objektiv nicht zu beanstanden und der Patient trotzdem nicht zufrieden ist?
Schiltenwolf: Zum Beispiel. Eine der erfolgreichsten Operationen, die man in der Orthopädie kennt, ist der Einbau einer Hüftgelenksprothese bei Hüftarthrose. Dieser Eingriff wird in Deutschland etwa 250.000 Mal im Jahr vorgenommen. Aber zehn Prozent der betroffenen Patienten sind mit dem Ergebnis unzufrieden, ohne dass wir genau wissen, warum. Es gibt aber gute Hinweise darauf, dass man im Vorfeld der Operation erkennen könnte, wer später unzufrieden sein könnte, beispielsweise Patienten, die vor dem Eingriff deutlich depressiv sind.
BVOU.net: Was wäre hier die Lösung?
Schiltenwolf: Diese Patienten sollte man im Grunde zunächst nicht operieren. Man sollte erst ergründen, worum es bei ihnen eigentlich geht.
BVOU.net: Auf dem diesjährigen Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie in Berlin bietet der BVOU eine Fortbildung zu Psychosomatischer Grundversorgung an. Freut es Sie, dass es dieses Kursangebot auf dem DKOU geben wird?
Schiltenwolf: Unbedingt! Jeder muss bei einem großen Kongress aus der Vielzahl parallel laufender Veranstaltungen auswählen, was für ihn wichtig ist. Es gibt beim DKOU neben Beiträgen aus der Grundlagenforschung genauso Beiträge, bei denen es um eine Verbesserung der Versorgungssituation geht. Dorthin gehört auch unser Angebot. Es geht dabei übrigens nicht nur um Verbesserungen für die Patienten, sondern auch um Verbesserungen für die Kollegen selbst. Psychosomatische Grundkompetenzen helfen, als Arzt besser mit frustrierenden Erfahrungen in Arzt-Patient-Beziehungen umzugehen und sie besser gestalten zu können.
BVOU.net: Helfen moderne Kursangebote oder neue Angebotsformen, mehr Kollegen für Themen wie die psychosomatische Grundversorgung zu interessieren?
Schiltenwolf: Sicher. Es gibt in der modernen Didaktik ja viele Formate, um solche handlungsorientierten Fortbildungsangebote noch ein bisschen näher an die Adressaten zu bringen. Wir haben in unserem Kurs beispielsweise einen Part mit einer Schauspielerpatientin. Das ist sehr lebensnah und bietet einen guten Einstieg, um als Orthopäde und Unfallchirurg bestimmte Kontakt- und Beziehungsformen mit Patienten zu reflektieren und Alternativen zu erproben. Da sind wir schon sehr modern aufgestellt. Wir haben wenig Theorie und viel Praxis in unserem Kurs.
BVOU.net: Sie haben erwähnt, dass Kompetenzen in psychosomatischer Grundversorgung für Orthopäden und Unfallchirurgen im Berufsalltag grundsätzlich nützlich sein können – nicht nur bei sogenannten schwierigen Patienten. Erkennt man diese aber damit möglicherweise schneller?
Schiltenwolf: Das ist eine schwierige Frage, die jeder eigentlich nur selbst beantworten kann. Ich werde mittlerweile auch aufmerksam und selbstkritisch, wenn ich merke: Das läuft zu gut. Das sind Situationen, in denen man als Arzt idealisiert und mit Erwartungen konfrontiert wird, die man gar nicht ausfüllen kann. Solche verführerischen Situationen sind mindestens so schwer zu bewältigen wie Situationen, die a priori schwierig laufen.
BVOU.net: Wie muss man sich das vorstellen? Sie wollen einen Patienten vor der Operation aufklären, und er sagt: Sie machen das schon Herr Doktor, ich bin mit allem einverstanden?
Schiltenwolf: Das würde ich nicht sagen. Das sind eher Patienten, die sehr viel Vertrauen aufbringen. Ich finde es schwierig, wenn Patienten sagen: Herr Doktor, ich habe von Ihnen nur das Beste gehört. Ich weiß, Sie werden mich nach zehn enttäuschenden Erfahrungen endlich heilen. Davon bin ich ganz felsenfest überzeugt – Sie werden das besser machen als die anderen. So eine Konstellation ist für einen als Arzt enorm verführerisch, weil man sich in seinen eigenen narzisstischen Bedürfnissen befriedigt fühlt. Daraus können am Ende herbe Enttäuschungen entstehen.
BVOU.net: Finden Sie, dass sich in den letzten Jahren das Interesse Ihrer Kollegen an solchen Fragestellungen erhöht hat? Also an solchen Fragen: Wie gehen Patienten mit Schmerz um? Welche Rolle spielt die subjektive Patientenperspektive? Warum sind Patienten unzufrieden, obwohl das Behandlungsergebnis objektiv gut ist?
Schiltenwolf: Es stimmt: Es gibt deutliche Tendenzen, sich solchen Fragestellungen gegenüber zu öffnen und sie nicht mehr nur als Esoterik abzutun oder als Ganzheitsmedizin – was im Grunde genommen bedeuten würde, das sei alles nur eine reine Sache der Zuwendung. Das ist die eine Seite. Die andere ist: Die Fallzahlen in O und U haben in dramatischen Maß zugenommen. Das hat verschiedenste Ursachen. Aber man muss auch feststellen, dass offenbar das psychosomatische Krankheitsverständnis in O und U noch nicht den angemessenen Stellenwert hat.
Das liegt natürlich auch am Fach selbst. In einer Notfallsituation braucht es Ärzte und Helfer, die schnell handeln und sich nicht gedanklich im Weg stehen, also quasi stabile Anpacker. Aber für den klinischen Versorgungsalltag ist natürlich die Bedeutung der Beziehungsgestaltung mit dem Patienten erheblich, und deshalb sind dann psychosomatische Grundkenntnisse unverzichtbar. Es ist bedauerlich, dass wir da noch viele Chancen im Umgang mit Patienten verpassen. Denn unsere Grundhaltung darf weder unkritisch-empathisch noch abwehrend sein. Wir müssen vielmehr täglich erreichen, dass wir mit jedem Patienten gemeinsam etwas zustande bekommen.
(Das Interview führten Janosch Kuno und Sabine Rieser.)