Die ambulante Versorgung in Deutschland steht derzeit vor einer Reihe von gravierenden Herausforderungen, die dringend angegangen werden müssen, sonst droht ein katastrophaler Praxen-Kollaps. Um diesen zu verhindern, sind umgehend Maßnahmen erforderlich, die helfen, die wegbrechenden Strukturen kurzfristig zu stärken, denn: Trotz des hervorragenden Rufs des deutschen Gesundheitssystems gibt es eine wachsende Kluft zwischen der hohen Qualität der stationären Versorgung und den Problemen, mit denen die ambulante Versorgung konfrontiert ist.
Eine ungleiche Verteilung der Ärzte, hohe bürokratische Belastungen, steigende Kosten, geringe Vergütung sowie unzureichende Investitionen in digitale Lösungen sind nur einige Herausforderungen, die es anzugehen gilt. Eine gezielte Politik, die diese Probleme angeht und die ambulante Versorgung stärkt, ist notwendig, um die Versorgungsqualität für die Patienten zu verbessern.
Im Zuge der Protestkampagne hat die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg ihre Mitglieder vor der Kamera gefragt, wie sie die ambulante Versorgung in Hamburg bewerten. Der Film zeigt sehr anschaulich, wo in den Praxen gerade der Schuh drückt: Es geht um die Zukunft der ambulanten Versorgung für die Patientinnen und Patienten, eine tragfähige Finanzierung – und um Wertschätzung für die Arbeit, die täglich in den Vertragspraxen geleistet wird. Dr. Anna-Katharina Doepfer, BVOU-Vorstandsmitglied stellt klar: „Die derzeitige politische Situation ist einfach nicht patientenorientiert!“
Also ist auch die Bevölkerung ist hiermit aufgerufen, für den Erhalt der ambulanten medizinischen Versorgung bei ihren Haus- und Fachärzten, sowie ihren Psychotherapeuten aktiv zu werden. Tut sie das nicht, wird diese zugangsfreie medizinische Versorgung, um die uns aktuell noch große Teile der Welt beneiden, verschwinden und es droht der Ausbau einer staatlich kontrollierten Medizin.
Dr. Anna-Katharina Doepfer: “Die derzeitige politische Situation ist einfach nicht patientenorientiert!”
Frau Dr. Doepfer im Video der KV HH haben Sie erwähnt, dass die aktuelle Gesundheitspolitik nicht mehr patientenorientiert ist. Wie begründen Sie Ihre Aussage und welche konkreten Änderungen wünschen Sie sich?
Dr. Anna-Katharina Doepfer: Um es direkt auszudrücken: Unser derzeitiger Gesundheitsminister ist ein Krankenhausminister. Das bedeutet, dass die ambulante Versorgung für ihn einfach nicht im Mittelpunkt steht. Fakt ist aber, dass über die ambulante Versorgung über ca. 95 Prozent der Patienten versorgt werden. Hier findet die grundlegende medizinische Versorgung in unserem Land statt. Diesen Bereich in den multiplen Reformen nicht zu beachten und teilweise gegeneinander auszuspielen, ist ein starkes Stück und mit Sicherheit nicht patientenorientiert. Die fachärztliche ambulante Versorgung in Deutschland leistet eine eindrucksvolle Arbeit: das sind 30mal so viele Patienten bei knapp einem Drittel der Kosten wie im stationären Bereich. Die Lebenserwartung steigt weiterhin an (siehe statistisches Bundesamt: 2020/2022 lagen diese Werte bei Männern bei 78,3 Jahren beziehungsweise bei 83,2 Jahren bei Frauen. Wenn es der Politik um die gute medizinische Versorgung der Patienten ginge, würden z.B. sprechende und beratende Leistungen entsprechend honoriert werden. Eine gute medizinische Betreuung zeichnet sich durch eine hohe Qualität aus, die jedoch gelegentlich auch Zeit braucht.
Wie wirkt sich die aktuelle Gesundheitspolitik Ihrer Meinung nach auf die Qualität der orthopädisch-unfallchirurgischen Versorgung aus?
Dr. Doepfer: Wir sollen eine gute Patientenversorgung gewährleisten und bekommen jeden dritten Patienten nicht bezahlt. So können die Praxen nicht weiter geöffnet bleiben. Die bisher sehr gute Qualität in der Versorgung wird zwangsläufig unter dem enormen Kostendruck zurückgehen. Die Wartezeiten auf Termine wird enorm zunehmen und damit werden orthopädisch-unfallchirurgische Probleme nur sehr verzögert adressiert – dadurch können auch höhere Folgekosten entstehen.
Inwiefern beeinflusst die Gesundheitspolitik die Arbeitsbedingungen in Ihrer Praxis und wie wirkt sich dies auf die Versorgung der Patienten aus?
Dr. Doepfer: Da die erbrachte Leistung bei jedem dritten Patienten nicht bezahlt wird, können wir die Kosten nicht mehr decken. Bisher konnten wir unsere Kosten mit den KV-Zahlungen ausgleichen. Das wird nun voraussichtlich nicht mehr möglich sein. Dabei ist das Honorar für die ärztliche Tätigkeit noch nicht abgezogen. Viele der Kollegen und Kolleginnen können so den Betrieb ihrer Praxis nicht mehr aufrechterhalten und müssen die Praxis schließen oder die Versorgungsstruktur ändern.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Versorgung von Patienten mit Problemen des Bewegungsapparates durch die aktuelle Gesundheitspolitik?
Dr. Doepfer: Wie auch aus den Leitlinien für den unspezifischen Rückenschmerz zu entnehmen ist, erfordert die Behandlung allein dieser Diagnose ein umfassendes Gespräch und eine Erklärung für den Patienten über Krankheitsentstehung und Behandlungsmöglichkeiten. Diese Zeit wird leider nicht mehr bezahlt und muss daher zwangsläufig eingeschränkt werden. Auch erfordert die konservative Behandlung von Frakturen und z.B. die bei Säuglingen, mehrere Vorstellungen/Kontrollen. Diese bzw. der Aufwand für die Behandlung solcher Fälle ist aber in den Abrechnungsziffern (Komplexziffern) nicht abgebildet. Somit wird hier ein Versorgungsproblem entstehen.
Glauben Sie, dass die Interessen der niedergelassenen Orthopäden und Unfallchirurgen ausreichend in der Gesundheitspolitik berücksichtigt werden? Warum oder warum nicht?
Dr. Doepfer: Das Bild des Orthopäden in der Politik hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht verändert. Die Klischees sind veraltet und entsprechen nicht mehr der Gegenwart. Gerade über die Zusammenlegung unserer Fächer verfügen wir über gute Analyse und Daten über unser Fach. Dieses Wissen wird seitens der Politik nicht oder nur sehr gering genutzt. Insgesamt werden leider oft die ärztlichen Vertreter aus den Entscheidungsprozessen herausgehalten. Eine Politik kann nur gemeinsam mit allen Bereich der Gesundheitsversorgung funktionieren.
Können Sie konkrete Beispiele nennen, in denen die aktuelle Gesundheitspolitik bereits zu einer Beeinträchtigung der Patientenversorgung in Ihrer Praxis geführt hat?
Dr. Doepfer: Ich kann nicht mehr alle Notfall-Patienten oder Neupatienten annehmen, wenn meine Kapazitäten erschöpft sind. Das fällt sehr schwer, da wir angetreten sind, unsere Patienten gut und zeitnah zu versorgen. Die Sprechstundentermine sind mittlerweile auf 4-6 Monate im Voraus ausgebucht. Das führt zu langen Wartezeiten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Janosch Kuno.