Leipzig – Die Künstliche Intelligenz (KI) hat in den letzten Jahren einen enormen Einfluss auf die medizinische Landschaft weltweit gewonnen. Ihre Fähigkeit, große Mengen an Daten zu verarbeiten und komplexe Muster zu erkennen, hat das Potenzial, medizinische Diagnosestellung und Behandlungen zu revolutionieren. In der Orthopädie und Unfallchirurgie eröffnet die KI neue Möglichkeiten, um präzisere Diagnosen zu stellen, personalisierte Behandlungspläne zu entwickeln und chirurgische Eingriffe zu optimieren.
Durch den Einsatz von KI-Technologien werden wir Ärzte in Zukunft auf eine breite Palette von Tools und Algorithmen zugreifen können, die uns dabei helfen, schneller fundierte Entscheidungen zu treffen.
Überblick über KI-Anwendungen in der Orthopädie und Unfallchirurgie
In der Orthopädie und Unfallchirurgie hat die KI bereits zahlreiche Anwendungsbereiche gefunden. Zum Beispiel können KI-gestützte Bildanalyseverfahren Röntgenbilder, CT- oder MRT-Scans effizient analysieren und dabei helfen, Frakturen, Gelenkerkrankungen oder Pathologien an der Wirbelsäule zu identifizieren. KI-Systeme können auch bei der Planung und Durchführung von chirurgischen Eingriffen unterstützen, indem sie präzise Navigationshilfen bieten oder robotergestützte Operationen ermöglichen. Darüber hinaus können KI-Algorithmen bei der Prognose von Heilungszeiten, der Identifizierung von Rehabilitationsbedarf und der Entwicklung individualisierter Therapiepläne helfen. Nicht nur zur Unterstützung von ärztlichen Tätigkeiten werden diese Anwendungen entwickelt, sondern auch für die Aus- und Weiterbildung von Student: innen und Fachärzt: innen. Durch neue Möglichkeiten der Visualisierung z.B. mit virtuellen Modellen oder VR-Applikationen sind ganz neue Möglichkeit von Wissenstransfer entstanden.
Zielsetzung des Artikels
Das Ziel dieses Artikels ist es, einen umfassenden Überblick über die Chancen und Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz in der Orthopädie und Unfallchirurgie zu geben. Wir werden die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der KI in diesem Bereich beleuchten und darüber hinaus werden wir die potenziellen Auswirkungen auf die Patientenversorgung, ethische Aspekte und die zukünftigen Perspektiven der KI diskutieren. Mit diesem Artikel möchten wir Ärzte, Wissenschaftler und Entscheidungsträger dazu ermutigen, sich aktiv mit der Künstlichen Intelligenz auseinanderzusetzen und deren Potenzial in der Orthopädie und Unfallchirurgie zu erkennen.
Erkennung von Verletzungen und Erkrankungen des Bewegungsapparats mit KI
Durch die Analyse großer Mengen an medizinischen Daten können KI-Algorithmen Muster identifizieren, die auf das Vorhandensein bestimmter Erkrankungen oder Verletzungen hinweisen. Bezüglich der Frakturdetektion wurden in den letzten Jahren einige Arbeiten veröffentlicht. Als Beispiel ist eine Studie von Jin et al zu nennen, die die automatische Analyse von Rippenfrakturen bei CT-Bildern mit Hilfe von KI untersucht hat (Jin et al. 2020) aber auch bei der Frakturdetektion an den Extremitäten wie z.B. die distale Radiusfraktur wurden vielversprechende Ergebnisse publiziert (Cohen et al. 2023). Auch im Bereich der Wirbelsäule wurden in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen veröffentlich über die Anwendung von KI bei der Bildanalyse von anatomischen Strukturen und ihre Pathologien z.B. Bandscheibenvorfälle (Fu et al. 2022), Neuroforamenstenose (Lewandrowski et al. 2020) und der lumbalen Muskulatur (Baur et al. 2022) anhand von MRT-Bildern.
Präzisere Diagnosen mit Hilfe von KI-Algorithmen
Die KI kann weiterhin dazu beitragen, präzisere Diagnosen und Abschätzungen über mögliche Krankheitsverläufe zu stellen. KI-Algorithmen können große Mengen an Patientendaten analysieren, um Muster und Zusammenhänge zu erkennen, die für eine genaue Diagnosestellung hilfreich sind. Beispiele hierfür sind die Diagnose von degenerativen Gelenkerkrankungen wie Arthrose im Kniegelenk (Teoh et al. 2022), Risikobewertung postoperativer Komplikationen (Karabacak und Margetis 2023), Screening-Algorithmen für Patienten mit Osteoporoserisiko (Wu et al. 2023) und Clusteranalyse zur Ermittlung von Untergruppen innerhalb der idiopathischen Skoliose bei Jugendlichen (Pasha und Mac-Thiong 2020).
Durch die angewendeten KI-Modelle kann die unidirektionelle Betrachtungsweise (Bildgebung und Einteilung der Pathologie nach einer Klassifikation) verlassen werden und patientenindividuelle Parameter in den vermuteten Krankheitsverlauf mit einfließen. Durch die Integration von KI in die Diagnoseprozesse können Ärzte fundierte Entscheidungen treffen und die Patientenbetreuung individualisieren.
Chirurgische Unterstützung durch Künstliche Intelligenz
Die robotergestützte Chirurgie hat in der Orthopädie und Unfallchirurgie bedeutende Fortschritte ermöglicht. Durch den Einsatz von Robotersystemen können präzise und reproduzierbare Ergebnisse während chirurgischer Eingriffe, vornehmlich im Gebiet der Knie-Endoprothetik, der Hüftpfannen und im Bereich der Schraubenplatzierung an der Wirbelsäule durchgeführt werden.
Navigationssysteme, die auf KI basieren, bieten eine wichtige Unterstützung während chirurgischer Eingriffe. Diese Systeme können intraoperative Echtzeitdaten sammeln und verarbeiten, um dem Chirurgen wichtige Informationen und Feedback zu liefern. Durch die Verarbeitung von Daten durch eine KI während einer Operation zur Positionierung von Instrumenten, Lage des Patienten und den jeweiligen anatomischen Strukturen wird dem Operateur ein umfängliches Bild bis hin zu 3-D-Bildern während des operativen Eingriffs geliefert. Implantatfehllagen können so reduziert werden, ebenso das Risiko von anderen Komplikationen während des Eingriffs minimiert werden. Auch können spezifische Szenarien im Operationsaal mit Hilfe von KI-unterstützer Virtual Reality simuliert werden und das Fachpersonal somit wichtige Fähigkeiten für die entsprechende Situation vermittelt werden.
Ethische und rechtliche Aspekte der KI in O&U
Bei der Anwendung von KI in der Orthopädie und Unfallchirurgie müssen Datenschutz und Datensicherheit von größter Bedeutung sein. Die Verarbeitung und Analyse sensibler medizinischer Daten erfordern geregelte Maßnahmen, um die Privatsphäre der Patienten sicher zu schützen. Robuste Datenschutzrichtlinien, Anonymisierungstechniken und sicheren Datenübertragungsmethoden, um das Risiko von Datenverletzungen und unbefugtem Zugriff zu minimieren, sind essenziell.
Die Verwendung von KI-Algorithmen bei medizinischen Entscheidungen wirft Fragen nach Verantwortung und Haftung auf. Klare Richtlinien sind unserer Meinung nach
notwendig um die Verantwortlichkeiten von Ärzten, Herstellern von KI-Systemen und anderen Beteiligten zu definieren. Es ist wichtig, dass Ärzte die Ergebnisse und Empfehlungen von KI-Systemen kritisch prüfen und letztendlich die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen übernehmen. Gleichzeitig müssen Hersteller von KI-Systemen sicherstellen, dass ihre Produkte den geltenden rechtlichen und ethischen Standards entsprechen und transparente Validierungs- und Zertifizierungsverfahren implementieren.
Der Einsatz von KI wirft eine Reihe ethischer Fragen und gesellschaftlicher Implikationen auf. Eine breite Diskussion und Reflexion über diese Fragen sind in vollem Gange, auch über die Medizin hinaus. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass die Integration von KI in der medizinischen Praxis fachlich abgesichert, ethisch vertretbar und gesellschaftlich akzeptabel ist.
Zu diskutieren ist, dass KI-Algorithmen auf der Grundlage von Daten trainiert werden, die möglicherweise eine Verzerrung aufweisen, beispielsweise aufgrund von Ungleichheiten in der Datenrepräsentation. Dies kann zu einer ungleichen Behandlung bestimmter Bevölkerungsgruppen führen. Daher ist es wichtig, sicherzustellen, dass KI-Systeme faire und ausgewogene Ergebnisse liefern und keine bestehenden Ungleichheiten verstärken. Hierzu sind große Datenmengen erforderlich, was eine überregionale, in aller Regel multizentrische und interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert.
Ein weiterer ethischer Aspekt betrifft die Autonomie der Patienten. Bei der Nutzung von KI-gestützten Systemen in der Diagnose und Behandlung müssen Patienten umfassend informiert und in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.
Eine nicht nur ethisch, sondern auch berufspolitisch relevante Überlegung betrifft die Langzeitwirkungen und Auswirkungen des Einsatzes von KI. Aus Sicht der Autoren führt dies zu einer steigenden Verantwortung der Ärzte sowohl in der Entwicklung als auch in der Anwendung dieser Techniken. Es ist daher notwendig, die möglichen sozialen und ökonomischen Konsequenzen zu berücksichtigen, einschließlich der Auswirkungen auf Arbeitsplätze und die Rolle der Ärzte. Die Implementierung von KI sollte darauf abzielen, die Patientenversorgung zu verbessern und den medizinischen Fortschritt zu fördern, ohne die Menschlichkeit und den persönlichen Kontakt in der medizinischen Praxis zu vernachlässigen.
Autoren:
Dr. med. Anna Völker
stellv. Geschäftsführende Oberärztin
Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie
Department für Operative Medizin
Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Plastische Chirurgie
Leipzig
Dr. med. Philipp Pieroh
Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie
Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Plastische Chirurgie
Leipzig
Prof. Dr. med. habil. Christoph – E. Heyde
Geschäftsführender Direktor
Bereichsleiter Wirbelsäulenchirurgie
Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Plastische Chirurgie
Universitätsklinikum Leipzig – AöR
Leipzig
Literaturverzeichnis
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Lewandrowski, Kai-Uwe; Muraleedharan, Narendran; Eddy, Steven Allen; Sobti, Vikram; Reece, Brian D.; Ramírez León, Jorge Felipe; Shah, Sandeep (2020): Artificial Intelligence Comparison of the Radiologist Report With Endoscopic Predictors of Successful Transforaminal Decompression for Painful Conditions of the Lumber Spine: Application of Deep Learning Algorithm Interpretation of Routine Lumbar Magnetic Resonance Imaging Scan. In: International journal of spine surgery 14 (s3), S75-S85. DOI: 10.14444/7130.
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