Berlin – Unter der Überschrift „Knieprothesen – starker Anstieg und große regionale Unterschiede“ hat die Bertelsmann-Stiftung eine Analyse zum Anstieg und zu den regionalen Unterschieden bei Knieendoprothesen-Operationen veröffentlicht. Die Autoren arbeiten für das Science Media Center Germany (SMC). Zentrale Thesen und Daten aus der Analyse im Wortlaut:
Anlass der Analyse: „Nach langer Zeit stabiler und zuletzt rückläufiger Implantationszahlen ist die Anzahl der Knieprothesen-Eingriffe bundesweit seit 2013 wieder um 18,5 Prozent gestiegen. Auf Kreisebene unterscheiden sich die Eingriffszahlen pro 100.000 Einwohner bis zum Dreifachen. Das zeigen Analysen mit dem Operation Explorer – einem webbasierten Recherche-Tool beim Science Media Center, das Daten des Statistischen Bundesamtes auswertet. Dazu kommt ein weiterer bedenklicher Trend: Die Anzahl der jüngeren Patienten unter 60 Jahre, die sich eine Knieprothese einsetzen lassen, nimmt in Deutschland kontinuierlich zu: Es waren 2016 rund 31 Prozent mehr als noch 2009. Diese Entwicklung ist auch international zu beobachten und problematisch für die Patienten.“
Trends: „Der Operation Explorer zeigt, dass die Entwicklung der Zahlen in Deutschland lange stabil war. In den Jahren 2009 bis 2011 gab es keine nennenswerten Schwankungen. 2012 und 2013 sanken die Zahlen sogar deutlich. Seitdem steigen die Zahlen wieder. Wurden 2013 noch 142.546 Knie-Prothesen in Deutschland implantiert, so sind es im aktuellen Datenjahr 2016 bereits 168.898 – ein absoluter Anstieg von 18,5 Prozent in drei Jahren. Die altersstandardisierte Steigerungsrate beträgt rund 15,8 Prozent.“
Regionale Trends: „Auf Kreisebene gibt es Unterschiede bei der Häufigkeit pro 100.000 Einwohner bis zum Dreifachen. Regen (358), Dillingen an der Donau (338) und Amberg-Sulzbach (338) haben zwei- bis dreimal so hohe Werte wie die Kreise mit den niedrigsten Eingriffszahlen: Potsdam (118), Frankfurt/Oder (122), Karlsruhe (130) oder Trier (131). Viele Kreise in Bayern fallen mit hohen Werten auf.“
Journalistische Recherche: „Die Datenanalysen im SMC werden von journalistischen Hintergrundrecherchen begleitet. Für diese Recherche wurde ausgewählte Literatur einbezogen und eine Vielzahl von Gesprächen mit Ärzten aus dem ambulanten, stationären und dem Reha-Bereich, mit Krankenkassen-Vertretern, Klinikchefs, Gesundheitsökonomen und Klinik-Controllern geführt. Sieben Gesprächspartner haben längere und/oder mehrere Interviews gegeben, darunter vier Chefärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie, zwei niedergelassene Fachärzte für Orthopädie, und eine Klinik-Controllerin. Alle bekamen vorab die Analyseergebnisse und wurden anschließend zu möglichen Ursachen für den Anstieg der Knieprothesen-Operationen und die regionalen Unterschiede befragt.“
Finanzielle Anreize: „Die meisten Gesprächs- und Interviewpartner waren sich einig, dass finanzielle Anreize für Kliniken und niedergelassene Ärzte die Häufigkeit von Knieoperationen beeinflussen. Immer wieder beschrieben sie die Knieprothesen-Operation als finanziell attraktiv und gut planbar. Sie habe den Vorteil, dass sie auch in kleinen Krankenhäusern durchgeführt werden könne. Zwei der Klinik-Fachärzte für Orthopädie beschrieben, dass ihre Abteilungen innerhalb der Kliniken als ‚Cash Cow‘ gehandelt würden, die die Aufgabe habe, Defizite aus anderen Abteilungen auszugleichen.
Eine besondere Rolle scheinen auch Honorar-, Konsiliar- und Belegärzte zu spielen. Die Gesprächs- und Interviewpartner beklagten den Trend, dass viele Kliniken Verträge mit niedergelassenen Orthopäden schlössen, die Patienten aus ihren eigenen Praxen dann in den Vertragskliniken operierten. Solche Verträge seien für beide Seiten von Vorteil: Die Klinik bekomme auf diesem Weg Patienten. Die niedergelassenen Orthopäden wiederum erhielten für die Operationen ein lukratives Honorar. Ein großer Teil der Gesprächs- und Interviewpartner erklärten explizit, diese weitverbreitete Praxis sei ein erheblicher Fehlanreiz. Ein Klinikchef nannte diese Kooperationen ‚einen wunden Punkt des Gesundheitssystems‘, der politisch korrigiert werden müsse.“
Budgetierung: „Eine Alternative zur Operation stellt in vielen Fällen eine konservative Therapie mit Bewegungstraining, Schmerzmitteln und Gewichtsabnahme dar. Viele der befragten Ärzte bemängelten, dass für solche Therapieansätze nicht genügend Ressourcen zur Verfügung stünden. So könne zum Beispiel bei der Physiotherapie nur eine geringe Anzahl an Therapieeinheiten verschrieben werden. Das sei völlig nutzlos, weil Muskelaufbau viel Zeit brauche.“
Zum Science Media Center Germany (Quelle: Homepage):
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