Berlin – „Für manche Facharztgruppen ist das IGeLn zum Volkssport geworden. Information und Aufklärung geraten in der Praxis dabei manchmal in den Hintergrund.“ Diese Vorwürfe hat heute in Berlin Dr. Peter Pick erhoben, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Pick bezog sich auf eine Online-Befragung von mehr als 2.000 Versicherten im Alter zwischen 30 und 69 Jahren.
Fachärzte für O + U igeln häufig
Danach kannten 82 Prozent der befragten Versicherten Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL). 63 Prozent derjenigen, die schon von IGeL gehört haben, bekamen in den vergangenen drei Jahren eine solche Leistung angeboten oder fragten selbst danach. 72 Prozent der IGeL-Angebote stammen nach der Analyse des MDS von fünf Facharztgruppen: von Frauen- und Augenärzten, Orthopäden, Hautärzten und Urologen. Nach Schätzungen des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen verdienen Ärztinnen und Ärzte jährlich rund eine Milliarde Euro mit Individuellen Gesundheitsleistungen, hieß es.
Die Patienten sehen viele IGeL der Umfrage zufolge aber mit Argwohn: 67 Prozent der Befragten, die schon einmal von IGeL gehört hatten, beurteilten sie kritisch. Nur 52 Prozent derjenigen, denen eine IGeL angeboten wurde, waren mit dem Verhalten der Ärztin/des Arztes zufrieden.
Kritische Informationen zu 41 Individuellen Gesundheitsleistungen hat der MDS auf dem Portal www.igel-monitor.de aufbereitet. Die Seite werde mittlerweile von 1.000 bis 3.000 Besuchern pro Tag angeklickt. „Anliegen des IGeL-Monitors ist es, das Informationsgefälle zwischen Arzt und Patient zu verringern“, erläuterte Pick. 17 Untersuchungs- und Behandlungsmethoden wurden mit „negativ“ oder „tendenziell negativ“ eingestuft, bei 15 wird der Nutzen als „unklar“ angegeben. Drei gelten als „tendenziell positiv“.
Stoßwellentherapie beim Fersenschmerz „tendenziell positiv“
Die Blutegeltherapie bei Kniearthrose beispielsweise wird mit „tendenziell negativ“ bewertet, ebenso die Hyaloronsäure-Injektion. Zur Magnetfeldtherapie beim Kreuzschmerz sei die Studienlage unklar, ebenso bei der Stoßwellentherapie bei der Kalkschulter. Hier ist der Vermerk „Hinweise auf erheblichen Nutzen, aber unzureichende Datenlage“ ergänzt. Die Stoßwellentherapie beim Fersenschmerz wird mit „tendenziell positiv“ bewertet. Hier findet man den Hinweis auf der Homepage von IGeL-Monitor: „Auf Basis der aktuellen Studienlage für den Einsatz der ESWT beim Fersenschmerz stellt der GKV-Spitzenverband beim Gemeinsamen Bundesausschuss einen Antrag auf eine erneute Nutzenbewertung dieser Methode.“ Die Stoßwellentherapie beim Tennisarm wird dagegen mit „tendenziell negativ“ bewertet.
„Zwar erkennen wir an, dass ein Teil der Ärzteschaft zunehmend zurückhaltender mit IGeL umgeht“, betonte der MDS-Geschäftsführer. „Ein anderer Teil praktiziert aber einen bisweilen aggressiven Verkaufsdruck und nutzt hierfür sein Praxispersonal. Dieser Teil ist aufgefordert, sich an die Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu halten.“ Damit ist der Ratgeber „Selbst zahlen?“ gemeint, den die beiden Institutionen gemeinsam mit anderen herausgegeben haben.
Kritik auch an IGeL-Finanzierung der Krankenkassen
Auch das Verhalten mancher Krankenkasse hält Pick aber für falsch. Einige erstatten gesetzlich Krankenversicherten teilweise Behandlungen, die sie nicht in den Leistungskatalog aller Kassen übernommen haben wollen. „Wir sind nicht glücklich, wenn negative Bewertungen von den Krankenkassen nicht beachtet werden“, betonte Pick. Erstattungen sehe man kritisch. Manche Bewertung einer IGeL durch den MDS habe aber dazu geführt, dass eine sie finanzierende Kasse nicht sehr viele Nachahmer gefunden habe.
Bei einem Presseseminar des MDS im April 2016 hatte Bernd Zimmer, Hausarzt und Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein, betont, die Mehrheit der Ärzte gehe „verantwortungsbewusst und zurückhaltend“ mit Selbstzahlerleistungen um: „IGeL sind kein Selbstzweck und nicht dazu da, das Portemonnaie der Ärzte zu füllen.“ Die Ärztekammer Nordrhein bearbeite etwa 80 Vorgänge zu Verdachtsfällen pro Jahr – bei insgesamt 80 Millionen Behandlungsfällen. Die Kammer reagiere auf Meldungen, ein aktives „Monitoring machen wir nicht“. Wichtig sei es, dass „Ärzte sachlich informieren, Wahlmöglichkeiten aufzeigen, Vor- und Nachteile erörtern und mit dem Patienten eine gemeinsame Entscheidung treffen“, betonte Zimmer.
Kritik an IGeL ja – an Kassenleistungen aber nein
Die Medizinjournalistin Dr. Martina Lenzen-Schulte hatte über das Presseseminar Ende April im „Deutschen Ärzteblatt“ berichtet. Sie wies unter anderem darauf hin, dass es eine ganze Reihe IGeL gebe, die von Patientenseite explizit gewünscht seien, ob schönheitschirurgische Maßnahmen, Laser-Haarentfernung oder Bescheinigungen für den Kita-Besuch nach Krankheit. Sie spielten aber in der öffentlichen Wahrnehmung nur eine geringe Rolle. „Ob im Einzelfall eine IGeL dem Patienten nützt, ist nicht leicht zu entscheiden“, befand Lenzen-Schulte. Sie kritisierte aber in ihrem Kommentar, dass man beim Monitor zwar schlecht über IGeL reden dürfe, aber offenbar nicht über Kassenleistungen. Als Beispiel führte sie die digitale Untersuchung der Prostata zum Screening an. Ihr Fazit: „Da sehen wir einen Balken im Auge der Wächter“.
Spifa: GKV-Versorgung hat Grenzen
Dr. med. Dirk Heinrich, Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbands Fachärzte Deutschland, verwies darauf, dass gesetzlich Krankenversicherte lediglich Anspruch auf eine ausreichende, bedarfsgerechte, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung hätten. „Das bedeutet aber eben auch, dass es weitere fachärztliche Leistungen gibt, die darüber hinausgehen und dem Patienten zur Verfügung gestellt werden können“, sagte er. „Selbst unsere Gerichte erkennen das an und haben schon Ärzte verpflichtet, bestimmte IGeL den Patienten anzubieten, um nicht in den Verdacht der Unterlassung zu geraten.“ Diese Dimension werde leider allzu gern von den Kassen verschwiegen.
Sabine Rieser
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