Köln – Die Muskelatrophie kann verschiedenste Ursachen haben. So tritt sie zum Beispiel bei Immobilisierung nach Knochenbrüchen auf. Teils ist der Muskelschwund aber auch auf genetische Mutationen zurückzuführen. Es gibt viele Patienten mit erblicher Muskelatrophie, bei denen das krankheitsverursachende Gen jedoch unbekannt ist. Eine Forschergruppe vom Institut für Humangenetik der Uniklinik Köln und vom Zentrum für molekulare Medizin Köln hat nun Mutationen im PIEZO2 Gen identifiziert, welche eine neue Art von Muskelatrophie verursachen.
Die Augen sind geschlossen, die Arme angehoben: versucht man nun, blind beide Zeigefinger vor dem Gesicht zusammenzuführen, so gelingt dies den meisten mehr oder weniger leicht. Im Hintergrund jedoch laufen komplizierte Prozesse ab, die diese Koordination ermöglichen. Obwohl es keine visuelle Information über die Position von Armen und Fingern gibt, kann man immer recht gut einschätzen, wo sich die Gliedmaßen befinden – eine Sinneswahrnehmung, die als Propriozeption bezeichnet wird.
Es ist ein Gefühl der Körperpositionierung im Raum. Die Wahrnehmung, ob ein Muskel kontrahiert ist oder nicht – auch ohne dies zu sehen, gibt Aufschluss darüber, wo sich einzelne Körperteile befinden. Genau für diesen Prozess benötigt man ein voll funktionsfähiges PIEZO2 Gen. Es ist ein Bauplan für ein Protein, das Druck und Dehnung in Muskeln und in der Haut wahrnehmen kann, ein sogenannter Mechanorezeptor.
Muskelzellen können Druck und Dehnung nicht wahrnehmen
Dr. Markus Storbeck, Postdoktorand in der Forschungsgruppe um Humangenetikerin Prof. Dr. Brunhilde Wirth, hat Sequenzdaten von mehr als 20.000 Genen von Patienten mit Muskelatrophie analysiert und Leserasterverschiebungen im PIEZO2 Gen entdeckt. Das bedeutet, dass ein kleines Stück DNA-Sequenz entweder fehlt oder eingefügt wurde, sodass der PIEZO2 Bauplan durcheinander gerät und nicht mehr gelesen werden kann. Dementsprechend können Zellen kein PIEZO2 Protein mehr produzieren. Die Abwesenheit dieses wichtigen Mechanorezeptors führt letztlich zur Erkrankung.
Ein weiterer Forscher der Gruppe, Doktorand Andrea Delle Vedove, hat aus der Haut der Patienten Zellen kultiviert und Experimente durchgeführt. So konnte er beweisen, dass die Zellen aufgrund der Mutationen im PIEZO2 Gen die Sequenz nicht mehr richtig lesen können. Die Zellen der Patienten sehen die Baupläne als Müll an und vernichten sie dementsprechend. Folglich fehlt den Zellen das PIEZO2 Protein; sie sind nicht in der Lage, mechanische Einwirkungen wie Druck und Dehnung wahrzunehmen. Obwohl es sich um eine erbliche Erkrankung handelt, sind die Eltern der Patienten nicht betroffen, aber tragen jeweils eine Kopie des mutierten Gens.
Erkrankung entsteht bereits im Mutterleib
Die durch den Verlust von PIEZO2 bedingte Erkrankung setze während der Embryonalentwicklung ein und sei zum Zeitpunkt der Geburt bereits ausgeprägt, so die Forscher. Ein gesundes Ungeborenes führt im Körper der Mutter bereits Bewegungen aus – eine Voraussetzung für die normale Muskelentwicklung durch Training. Die Wissenschaftler um Prof. Wirth glauben, dass Propriozeption, wie sie durch PIEZO2 vermittelt wird, zur Steuerung muskulärer Entwicklungsprozesse benötigt wird.
Skoliose oder Gelenksteifigkeit als Folge
Muskeln, die Dehnung nicht wahrnehmen können, sind zum Zeitpunkt der Geburt verkürzt. Dies führe zum Beispiel zu einer Skoliose oder zu Gelenksteifigkeit. Einige dieser Deformitäten könnten operativ korrigiert werden, aber es gebe keine Möglichkeit zur Behandlung der motorischen Defizite, so Wirth und ihre Kollegen. Wie bei allen genetischen Erkrankungen stehe die Identifizierung des ursächlichen Gens an erster Stelle. Um aber Strategien zur Therapie zu entwickeln, bedürfe es eines tieferen Verständnisses, wie die Abwesenheit von PIEZO2 zur Erkrankung führt. Dank ihrer Studie, so die Forscher, seien die Grundlagen dafür nun geschaffen.
Die Ergebnisse der Studie „Biallelic loss of proprioception-related PIEZO2 causes muscular atrophy with perinatal respiratory distress, arthrogryposis and scoliosis” wurden am 27. Oktober 2016 online im American Journal of Human Genetics veröffentlicht.
Quelle: Uniklinik Köln