Berlin – Im Gemeinsamen Bundesausschuss wurde am 19. September 2019 die überarbeitete Heilmittel-Richtlinie beschlossen. Die Änderungen gelten voraussichtlich ab 1.Januar 2021 und nicht wie ursprünglich geplant ab 1. Oktober 2020. Der G-BA reagierte mit seinem Beschluss auf einen Antrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Bisher hätten nur wenige Anbieter das notwendige Zertifzierungsverfahren für die entsprechend angepasste Praxisverwaltungssoftware durchlaufen.
Nachfolgend sind wesentliche Neuerungen und damit verbundene Vorteile aufgeführt.
Vereinfachung
Abschaffung der Regelfallsystematik: Nur Verordnungsfall und orientierende Behandlungsmenge Die komplizierte Regelfallsystematik wird abgelöst: Es wird künftig nicht mehr unterschieden in Erstverordnung, Folgeverordnung und Verordnung außerhalb des Regelfalls. Stattdessen gibt es einen Verordnungsfall und daran geknüpft eine sogenannte orientierende Behandlungsmenge. Die Formulierung „orientierende Behandlungsmenge“ soll deutlich machen, dass sich der Arzt bei der Heilmittelverordnung an dieser Menge orientiert, aber je nach medizinischem Bedarf des Patienten davon abweichen kann.
Vorteile: Die Anfälligkeit, eine ungenaue oder fehlerhafte Verordnung auszustellen, sinkt. Es besteht nicht mehr die Gefahr, dass eine Folgeverordnung ausgestellt wird, obwohl der Regelfall bereits überschritten ist.
Die Vereinfachung trägt dazu bei, Rückfragen zwischen Arzt- und Heilmittel-Praxis zu vermeiden.
Bürokratieabbau: Wegfall des Genehmigungsverfahrens für Verordnungen außerhalb des Regelfalls
Mit dem Wegfall der Verordnung außerhalb des Regelfalls entfällt auch das entsprechende Genehmigungsverfahren, das einige Krankenkassen verlangten. Somit sind auch für Verordnungsfälle, bei denen die orientierende Behandlungsmenge überschritten wird, keine Begründungen mehr auf der Verordnung erforderlich. Der Arzt dokumentiert lediglich in der Patientenakte die Gründe für den höheren Heilmittelbedarf. Vorteile: Ärzte müssen keine Begründung mehr auf der Verordnung angeben. Auch Patienten und Therapeuten werden entlastet, da sie kein Genehmigungsverfahren mehr zu berücksichtigen haben.
Mehr Verordnungssicherheit: Verordnungsdatum ist entscheidend, nicht ein „behandlungsfreies Intervall“
Derzeit ist ein „behandlungsfreies Intervall“ von zwölf Wochen definiert, erst danach handelt es sich um einen neuen Regelfall und es ist möglich, eine neue Erstverordnung auszustellen. Allerdings bringt das mehrere Schwierigkeiten mit sich: Weil Ärzte nicht wissen können, wann genau der letzte Behandlungstermin bei einem Heilmittelerbringer stattgefunden hat, können sie das behandlungsfreie Intervall nicht rechtssicher bemessen. Zudem suggeriert die Formulierung „behandlungsfreies Intervall“, dass eine Pause von zwölf Wochen erforderlich ist, bevor eine erneute Heilmittelverordnung erfolgen darf. Dabei ist das Intervall nur dafür maßgeblich, ob ein neuer Regelfall ausgelöst wird oder der alte gilt. Künftig ist das Datum der letzten Heilmittelverordnung entscheidend:
- Liegt es noch keine sechs Monate zurück, wird der bisherige Verordnungsfall fortgeführt. Die „orientierende Behandlungsmenge“ gilt ebenfalls fort, wobei auch darüber hinaus verordnet werden kann, wenn es medizinisch erforderlich ist.
- Liegt das Datum sechs Monate oder länger zurück, wird ein neuer Verordnungsfall ausgelöst.
Vorteil: Das letzte Verordnungsdatum ist im Praxisverwaltungssystem (PVS) des Arztes gespeichert. Damit können die Zeiträume jederzeit eingesehen oder vom PVS automatisch bemessen werden.
Klarheit: Schlucktherapie ist ein eigenes Heilmittel
Ärzte können Schlucktherapie als eigenes Heilmittel verordnen. Bisher ist sie in die Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie integriert. Dieser Heilmittelbereich heißt künftig: Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schlucktherapie.
Vorteil: Mehr Klarheit für Ärzte, Patienten und Therapeuten. Eine Behandlung mittels Schlucktherapie kann eindeutig auf der Verordnung kenntlich gemacht werden.
Übersichtlichkeit: Diagnosegruppen werden zusammengefasst
Die Diagnosegruppen im Heilmittel-Katalog werden vor allem im Bereich Physiotherapie zusammengefasst (von 22 auf 13) und insgesamt übersichtlicher: Innerhalb der Diagnosegruppen wird nicht mehr zwischen kurz-, mittel- und längerfristigem Behandlungsbedarf unterschieden. Die sogenannte Aufrechnung der Verordnungsmengen von Vor-Verordnungen für verwandte Diagnosegruppen entfällt. Auch ein Wechsel zwischen verwandten Diagnosegruppen ist nicht mehr nötig (z. B. von WS1 zu WS2). Darüber hinaus muss künftig nur noch zwischen „vorrangigen“ und „ergänzenden“ Heilmitteln unterschieden werden, da die optionalen in die vorrangigen Heilmittel integriert wurden.
Vorteil: Der Heilmittel-Katalog wird überschaubarer.
Mehr Therapieoptionen und Entscheidungsfreiheit: Flexiblere Angaben zur Leitsymptomatik
Die Angaben zur Leitsymptomatik werden wesentlich flexibler. So können künftig mehrere unterschiedliche Leitsymptomatiken auf einer Verordnung angegeben werden. Außerdem kann der Arzt künftig alternativ eine patientenindividuelle Leitsymptomatik formulieren. Dabei müssen die individuellen Angaben die Leitsymptomatik des Heilmittel-Katalogs „widerspiegeln“. In solchen Fällen brauchen Ärzte nicht zusätzlich die Leitsymptomatik nach dem Heilmittel-Katalog auf der Verordnung anzugeben.
Vorteil: Mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit für Ärzte Gleichzeitiges Verordnen mehrerer Heilmittel möglich In den Heilmittelbereichen der Physiotherapie beziehungsweise der Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schlucktherapie können künftig mehrere vorrangige Heilmittel gleichzeitig verordnet werden – konkret sind bis zu drei möglich. Im Bereich der Ergotherapie ist dies bereits heute schon möglich. Während der Laufzeit einer Verordnung können dann beispielsweise passive und aktive Maßnahmen der Physiotherapie kombiniert werden.
Vorteil: Erweiterung der Therapieoptionen.
Weniger Rücksprachen, Abstimmungen oder Änderungswünsche: Verordnungsfall ist immer arztbezogen
In der Heilmittel-Richtlinie wird klargestellt, ab wann ein Arzt von einem neuen Verordnungsfall ausgehen kann: Ein Verordnungsfall bezieht sich immer auf den verordnenden Arzt. Somit erfolgt auch die Bemessung der orientierenden Behandlungsmenge immer arztbezogen.
Vorteil: Ärzte müssen keine Verordnungsmengen von anderen Ärzten berücksichtigen, entsprechende Recherchen und Rücksprachen bleiben Ärzten künftig erspart. Behandlungsfrequenz kann flexibler angegeben werden
Die Frequenzempfehlungen des Heilmittel-Katalogs werden einheitlich als Frequenzspannen hinterlegt, zum Beispiel „1-3 x wöchentlich“. Das verringert Bürokratie, denn bisher muss der Therapeut Abweichungen von der Frequenzangabe mit dem Arzt abstimmen. Durch die Vorgabe einer Frequenzspanne können die Behandlungstermine je nach Bedarf flexibler zwischen Heilmittel-Therapeut und Patient vereinbart werden.
Vorteil: Keine zeitaufwändigen Abstimmungen zwischen Ärzten und Heilmittelerbringern bei Änderungen der Behandlungsfrequenz.
Längere Frist für Beginn der Heilmitteltherapie
Der späteste Behandlungsbeginn wird von bisher 14 auf künftig 28 Tage erweitert. Damit hat der Patient mehr Zeit, die Therapie zu beginnen. Gleichzeitig wird damit den längeren Wartezeiten bei den Heilmittelerbringern Rechnung getragen. Zudem soll ein Feld für einen dringlichen Behandlungsbedarf (innerhalb von 14 Tagen) auf der Verordnung geschaffen werden. Ärzte kreuzen es an, wenn die Erkrankung einen früheren Behandlungsbeginn erfordert.
Vorteil: Weniger nachträgliche Änderungswünsche von Patienten oder Therapeuten in Arztpraxen.
Hinweis: Künftig nur noch ein Verordnungsformular
Zur weiteren Vereinfachung soll es voraussichtlich ab 1. Oktober 2020 nur noch ein Verordnungsformular für alle Heilmittel geben (Physiotherapie, Podologie, Ergotherapie, Ernährungstherapie, Stimm-, Sprech-, Sprach- sowie Schlucktherapie). Dazu befinden sich die KBV und der GKV-Spitzenverband als Partner des Bundesmantelvertrages für Ärzte derzeit in Verhandlungen, die bis Ende 2019 abgeschlossen sein sollen.
Quelle: KBV/G-BA