In Schleswig-Holstein können sich Patienten mit Osteoporose zukünftig in einem strukturierten Behandlungsprogramm (Disease-Management-Programm, DMP) leitliniengerecht versorgen lassen. Schleswig-Holstein ist das erste Bundesland, in dem das DMP Osteoporose eingeführt wird. Für die Versicherten der beteiligten Krankenkassen startet das Programm am 1. Oktober 2023. Was das für Patienten und Ärzte bedeutet, berichten Dr. Monika Schliffke (Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein), Prof. Dr. med. Andreas Kurth (DVO und BVOU-Referat Osteologie) und Prof. Dr. Christopher Niedhart (Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Heinsberg) im Gespräch.
Frau Dr. Schliffke, beim DMP Osteoporose sollen einerseits Patienten, die bereits an Osteoporose leiden, besser behandelt werden. Andererseits sollen auch Personen identifiziert werden, die zwar keine Beschwerden haben, aber ein erhöhtes Risiko für Knochenbrüche. Auch diese können sich in das DMP einschreiben lassen. Wie werden diese Menschen ausfindig gemacht?
Dr. med. Monika Schliffke: In das DMP Osteoporose können Frauen ab 50 Jahre und Männer ab 60 Jahre eingeschrieben werden, wenn die Diagnose einer Osteoporose bereits gesichert ist. Die Diagnosesicherung ergibt sich aus Anamnese, Befunderhebung, Ausschluss anderer Erkrankungen, ggf. bildgebenden Verfahren resp. Knochendichtemessung. Zur Diagnosesicherung gehört speziell die Befragung auf oder der Beweis des Vorliegens bereits abgelaufener Frakturen oder ein mindestens 30-prozentiges Risiko für eine Fraktur innerhalb der nächsten zehn Jahre, was aus Risikofaktoren, Alter und DXA nach dem bewährten Verfahren ermittelt wird. Diese Risikoermittlung muss arztseitig dokumentiert sein.
Bei den Patienten, die eingeschrieben werden können, liegt somit entweder bereits eine ICD-Kodierung mit M50 (Osteoporose), M51 (Osteoporose mit Fraktur) oder M52 (medikamentös bedingte Osteoporose) vor oder diese Patienten werden in der Zukunft unter dieser Kodierung diagnostiziert und behandelt.
Unter der Diagnosekodierung sind sowohl für KVen als auch für Krankenkassen die Patienten zu identifizieren. Die KVSH hat dies im Vorfeld des Vertrages summarisch getan. Wir wissen, dass es in SH ca. 70.000 Patienten mit gesicherter Diagnose gibt, darunter sind 10.000 mit stattgehabten Frakturen. Nicht sicher aus einem dreistelligen Code ist zu identifizieren, ob es sich um eine genuine Osteoporose handelt oder z.B. um eine infolge einer dauerhaften Corticoid-Therapie. Wir werden im Verlauf des DMP versuchen, auf die beteiligten Ärzte einzuwirken, zur weiteren Differenzierung tiefer zu kodieren.
Selbstverständlich gehen wir nicht davon aus, dass alle Hausärzte und Orthopäden alle kodierten Patienten einschreiben werden. Das hat zum einen Kapazitätsgründe bei den Praxen, zum anderen gibt es wie bei jedem DMP Patienten, die einer Einschreibung nicht zustimmen. Eine erreichte Quote von 30-40% in den kommenden zwei Jahren würden wir als Erfolg betrachten. Parallel dazu haben wir eine Klausel im Vertrag, die die Krankenkassen auffordert, ebenfalls anhand der ihnen vorliegenden Diagnosen – die Daten kommen von der KV zu den Kassen – die Patienten mit den gesicherten Diagnosen anzuschreiben und sie aufzufordern, sich bei ihren Ärzten zu melden und auf das DMP anzusprechen. Im Arzt-Patienten-Verhältnis kann dann geklärt werden, ob eine Einschreibung möglich und sinnvoll ist.
Herr Professor Kurth, wer soll beim DMP-Osteoporose aus Ihrer Sicht Koordinator und Lotse sein? Ist das aus Ihrer Sicht eine gute Lösung?
Prof. Dr. Andreas Kurth: Wie vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegt, können Orthopäden und Unfallchirurgen neben Allgemeinmedizinerin und Hausärzten die Koordination von Patienten mit einem Osteoporose im Rahmen des Disease Management Programms Osteoporose übernehmen. In der Regel sind im Rahmen von DMP Allgemeinmediziner und Hausärzte für die Einschreibung und Koordination der betroffenen Patienten verantwortlich. Die Versorgungsrealität bei der Volkskrankheit Osteoporose zeigt aber, dass gerade in niedergelassenen orthopädisch-unfallchirurgischen Praxen ein Großteil der Patientin mit Osteoporose geführt und therapiert werden. In absoluten Zahlen werden Osteoporosetherapien etwa gleich in orthopädischen Praxen und allgemeinmedizinischen Praxen initiiert. Wobei fünf Mal mehr Allgemeinmediziner in Deutschland ambulant tätig sind als Orthopäden und Unfallchirurgen. Damit wird ein Großteil der Patienten von Orthopäden geführt. Dies wurde durch den Beschluss vom Januar 2020 berücksichtigt. Hätte man die Hauptversorger der Osteoporose in Deutschland aus dem DMP herausgelassen, hätte das gut gemeinte DMP für die strukturierte Versorgung sich nachteilig auf die Versorgungssituation dieser Volkskrankheit ausgewirkt.
Herr Professor Niedhart, ist es geplant, dass Patienten an einer Schulung teilnehmen? Was soll bzw. kann mit einer Schulung erreicht werden? Gibt es solche Schulungsprogramme überhaupt schon? Müsste ein solches Programm nicht evaluiert sein?
Prof. Dr. Christopher Niedhart: Die Patientenschulung ist zentraler Bestandteil des DMP Osteoporose. Die Osteoporoseschulung soll die Betroffenen dabei unterstützen, sich mit ihrer Krankheit aktiv auseinander zu setzen, sie zu verstehen und zu lernen, wie sie aktiv gegen die Osteoporose vorgehen können. Informierte Patientinnen können mit ihrer Erkrankung selbst bestimmt besser umgehen. Die Patientenschulung zum DMP Osteoporose wurde von der Orthopädischen Gesellschaft für Osteologie e.V. entwickelt und vom BAS genehmigt. Die Evaluation dieses Programms erfolgt im Rahmen des DMP.
Inwieweit werden teilnehmende Ärzte geschult, wie sehen die Inhalte konkret aus?
Prof. Niedhart: Um Patienten im Rahmen des DMP Osteoporose schulen zu können, müssen schulende Ärzte oder MFA ein entsprechendes Trainer-Seminar besuchen. Dies wird über die den Dachverband Osteologie e.V. angeboten. Näheres findet sich unter academy.ostak.de.
Welche Leistungen können im neuen DMP-Osteoporose abgerechnet werden?
Prof. Kurth: In einem DMP ist die strukturierte Versorgung der Erkrankung klar vertraglich geregelt. Erbrachte Leistungen im Rahmen des DMPs werden gesondert vergütet. Dazu gehören beim DMP Osteoporose die erst Dokumentation, die Folgedokumentation pro Quartal oder halbjährlich, eine Qualitätssicherungspauschale jährlich eine Betreuungspauschale pro Quartal oder halbjährlich und eine Sturz Anamnese zweimal jährlich. Zusätzlich können und müssen die Leistungserbringer eine Patientenschulung regelhaft anbieten, die in den Praxen durchgeführt werden kann und entsprechen vergütet wird. Da die Diagnose Osteoporose für die Einschreibung zwingend notwendig ist, werden Leistungen der Diagnostik nicht vergütet. Soweit bisher bekannt, werden die notwendigen medikamentösen Therapien nicht gesondert berechnet, sondern fallen weiterhin in das Medikament-Budget.
Sehen Sie die Erstellungsprozesse der Leitlinien zu Osteoporose kritisch, ebenso wie die Entwicklungsprozesse des DMP beim G-BA? Welche Kritikpunkte haben Sie? Was würden Sie vorschlagen, um die Erstellung von Leitlinien und DMP zu verbessern?
Prof. Kurth: Die Leitlinienarbeit und der Herstellungsprozess einer Leitlinie, nicht nur für die Leitlinie Diagnostik und Therapie der Osteoporose, unterliegen den strengen formellen Kriterien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Der abschließende Konsensus-Prozess muss ebenfalls unter der Moderation der AWMF durchgeführt werden. Für die Leitlinie Osteoporose wurden über vier Jahre etwa 1000 wissenschaftliche Publikationen durchgearbeitet, bewertet und in die entsprechenden Empfehlungen eingearbeitet. Damit ist diese Leitlinie gemäß der Vorgabe der evidenzbasierten Medizin auf höchstem Niveau angesiedelt.
Der Entwicklungsprozess des DMP beim G-BA basierte auf den Leitlinien Osteoporose 2017. Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat nach einer kritischen Bewertung internationaler Leitlinien die Deutsche Leitlinie als die beste für die Entwicklung eines DMP empfohlen. Der Entwicklungsprozess war konstruktiv und das Ergebnis am Ende sinnvoll für die strukturierte Versorgung von Patienten mit einer Osteoporose in Deutschland.
Das Problem liegt sehr viel mehr auf der Umsetzung des G-BA-Beschlusses bei den regionalen KVen. Dieser Prozess hat sich nun mehr als drei Jahre hingezogen. Und trotz erster erfolgreicher Verträge wie in Schleswig-Holstein, sind wir noch weit entfernt von einer flächendeckenden nationalen Versorgung der Patienten.
Des Weiteren muss jetzt bereits die Arbeit für einen Update des DMP Osteoporose gemäß der Vorgaben des G-BA beginnen. Die neuen Leitlinien 2023 stehen jetzt dafür zur Verfügung. Gemäß dem bisherigen Zeitverlauf wäre mit einem G-BA-Beschluss in ca. drei Jahren zu rechnen. Ob bis dahin mehr Verträge zwischen KVen Krankenkassen zum DMP Osteoporose geschlossen werden ist aktuell nicht vorhersehbar. Dieser zeitliche Verzug in der Umsetzung einer sehr guten strukturierten Versorgung ist sicherlich der größte Kritikpunkt an dem Entwicklungsprozess und der Umsetzung. Damit werden sehr viele Patienten von einer Verbesserung der Versorgungsstruktur nicht profitieren können.
Dr. Schliffke: Bezüglich der Leitlinienentwicklung hat die KVSH keine kritische Haltung, sie ist unseres Ermessens bei den Fachgesellschaften in exakt den richtigen Händen. Bei jeder Leitlinienentwicklung oder Aktualisierung ist zu erkennen, dass man sich sehr viel Mühe macht, auch den internationalen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Die Häufigkeit der Aktualisierungen ist sicher eine Kapazitätsfrage, bisher bestand allerdings immer der Eindruck, dass auf wesentliche medizinische Innovationen auch in angemessener Zeit reagiert wurde. Eine Beteiligung anderer Gremien an Leitlinienentwicklung – womöglich politischer Gremien – ist aus medizinischer Sicht abzulehnen. Nationale Versorgungsleitlinien stellen eher die Metaebene dar. Aus KV-Sicht ist höchstens zu beklagen, dass diagnostische und therapeutische Innovationen, die sich gemäß Leitlinie in wünschenswerter Weise möglichst schnell in die Versorgung umsetzen sollten, ihre zu langen Wege in den Verhandlungen mit der GKV für den (am Ende nicht auskömmlichen) EBM haben oder sogar auf Jahre gesehen vollkommen scheitern.
Zum DMP-Prozess des G-BA gehört zwingend eine Recherche der deutschen und internationalen Leitlinien, die das IQTIG durchführt, ebenso wie das Stellungsnahmeverfahren, mit dem die breite Palette der Fachgesellschaften annonciert wird. Diese Prozesse sind zwar zeit- und personalaufwändig, unseres Ermessens aber angemessen. Eine politische Entscheidung zu der jetzt diskutierten Erweiterung der beteiligten Parteien im G-BA wird den Verlauf eher erschweren als erleichtern.
Frau Dr. Schliffke, Herr Professor Kurth, Herr Professor Niedhart, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Janosch Kuno