Im Januar 2022 ist ein Papier der BertelsmannStiftung zur „Neuordnung der Notfallversorgung“ erschienen. Ein elfköpfiges interdisziplinäres Expertenpanel stellt darin die bisherigen Entwicklungen eines Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung seit 2015 dar. Es macht als „konsensuale“ Lösungs- bzw. Kompromissoptionen gedachte Vorschläge zur Neuordnung der Notfallgesetzgebung, die in mehreren „Werkstattgesprächen“ 2021 entwickelt wurden.
Basierend auf dem Krankenhausstruktur-Gesetz (KHSG) 2015, dem Sachverständigengutachten 2018, einem 2019 vom BMG entwickelten Diskussionsentwurf und einem 2020 überarbeiteten Referentenentwurf war angedacht, den Rettungsdienst mit dem KV-Notdienst kooperativ zusammenzuführen. Die Sicherstellung für die ambulante Versorgung sollte bei der KV verbleiben und die Auswahl der Integrierten Notfallzentren (INZ) an Krankenhäusern durch einen mit Vertretern der Landeskrankenhausgesellschaft, der KV und der Krankenkassen besetzten „erweiterten Landesausschuss“ erfolgen. Weitere Beratungen und Diskussionen erfolgten wegen der Corona-Pandemie ab 2021 nicht. Allerdings wurde der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungs-Gesetz (GVWG) 2021 beauftragt, innerhalb eines Jahres Vorgaben zur Durchführung einer qualifizierten und strukturierten Ersteinschätzung des medizinischen Behandlungsgeschehens am Krankenhaus unter Berücksichtigung der Notfallstufen zu erstellen. Im Koalitionsvertrag 2021-2025 wurde aufgegriffen, dass die Notfallversorgung in INZ in enger Zusammenarbeit zwischen den KVen und Krankenhäusern erfolgen soll. Den KVen soll die Option eingeräumt werden, die ambulante Notfallversorgung selbst sicherzustellen oder diese Verantwortung in Absprache mit dem Land ganz oder teilweise auf die Betreiber zu übertragen. Eine bedarfsgerechtere Steuerung soll durch eine Verschränkung der Rettungsleitstellen mit den KV-Leitstellen erreicht werden.
Hierzu kritisieren die Autoren, dass somit im Koalitionsvertrag wieder einzelne Positionen aufgegriffen werden, die sich bisher nicht als förderlich für eine Notfallversorgungsreform erwiesen haben. Zur Erreichung der Ziele einer bedarfsgerechteren Versorgung von Notfällen, einer Vermeidung unnötiger Patientenbelastungen durch Über-, Unter- oder Fehlversorgung, eines sachgerechten und effektiven Umgangs mit den Kapazitäten aller beteiligten Dienste und einer wirtschaftlich angemessenen Organisation der Versorgungsleistungen werden verschiedene Vorschläge gemacht.
Im Grundsatz sollen die heutigen Zugangsmöglichkeiten für Notfallpatienten und die jeweiligen Kompetenzen der beteiligten Dienste unverändert bleiben. Eine geregelte, strukturierte und digital unterstützte Kommunikation zwischen den verschärft abgestimmten beteiligten Strukturen soll dazu führen, dass eine Angleichung der Systeme zur Einschätzung der Dringlichkeit und zur Einsteuerung in die richtige Versorgungsebene erreicht wird. Angestrebt wird gegenseitige Transparenz und gemeinsame Abstimmung, durch die eine koordinierte und bedarfsgerechte, auch telefonische oder telemedizinische Bahnung in die lokal oder regional jeweils beste verfügbare Versorgungsform gewährleistet werden soll. Dabei soll der Grundsatz ambulant vor stationär gelten. Nur solche Patienten, die nach professioneller Einschätzung nicht mehr ambulant versorgt werden können, sollen in ein Krankenhaus verbracht werden. Dazu sollen die ambulanten Versorgungsmöglichkeiten erweitert werden. Angesprochen werden sowohl Notfallterminslots in Arztpraxen wie in Krankenhaus-ZNAs. Die Entscheidungen über den geeigneten Behandlungsweg sollen ausschließlich vertragsärztlich getroffen werden. Angeregt wird, anstehende grundlegende Strukturänderungen der stationären Versorgungslandschaft mit einer Reform der stationären Notfallversorgung zu verbinden. Vertretbar sei aber auch, letztere vorzuziehen. Bei der vorgesehenen Erweiterung der haus- und fachärztlichen Behandlungs- und Beratungsmöglichkeiten sind auch Videokonsultationen angedacht. Zur Vermeidung von Einweisungen aus reiner Pflegenotwendigkeit sollen Notfall-Pflege- oder Palliativ-Care-Teams ad hoc abrufbar sein. Ordnungspolitisch verantwortlich wird ein „fachkundiges Gremium“ aus allen an der Notfallversorgung beteiligten Institutionen ernannt. Die Länder sollen die Standorte der Krankenhäuser mit Notfallaufnahmen festlegen.
Dr. med. Karsten Braun, LL. M.
BVOU-Referat Presse/Medien
Kommentar zum Papier der BertelsmannStiftung und BVOU-Forderungen zur Neurordnung der Notfallversorgung
Die Ideen im Positionspapier klingen zunächst recht gut, ein konsentierter Ansatz macht bei dem Konfliktthema Notfallversorgung viel Sinn. Wieviel Konsens wirklich hinter dem Papier steht, bleibt indes fraglich: Oder wie würden Sie den Hinweis verstehen, dass das Positionspapier nicht in allen Punkten die Meinung aller Mitglieder des Panels widerspiegelt? Die Teilnehmer am Panel in bedeutenden Positionen wie Vorstand einer AOK, Staatssekretäre, Staatsräte, KV-Vorstand u. ä. hätten „als Privatpersonen“ teilgenommen, heißt es in der Einleitung. Hinsichtlich der Verwendbarkeit des dargestellten Kompromisses sind da schon gewisse Zweifel angebracht.
Ob alle Ideen so und vor allem zeitnah bei zunehmenden Ärztemangel im haus- und fachärztlichen Bereich und bei begrenzten Ressourcen realisierbar sind, erscheint ebenfalls fraglich. Die Optimierungspotentiale durch Digitalisierung der Kommunikation der Beteiligten dürften daran nicht viel ändern. Solange Patienten ohne Filterung und ohne ein Ticketing-System nach eigener Wahl und ohne finanzielle Nachteile selbst entscheiden können, ob sie Krankenhaus oder KV-Dienst aufsuchen bzw. die 116 117 oder die 112 anrufen, ist vernünftige Patientensteuerung weiter schwierig.
Gut ist sicher das Verlassen des Weges einer verpflichtenden Einraumlösung für INZ, die in ländlichen Regionen wie auch in Städten mit vielen Notaufnahmen personell nur schwer vom KV-System zu besetzen wäre. Der rein digital geführte „gemeinsame Tresen“ hingegen ist eine ernstzunehmende Option, wenn es gelingt, den Weg der Notfallpatienten weitgehend verpflichtend dorthin zu lenken. Wahrscheinlich gelingt dies nur mit andernfalls anfallender finanzieller Eigenbeteiligung für Patienten bei ungerechtfertigter Inanspruchnahme des „falschen“ Systems ohne Ticket. Ob die Politik dazu den Mut hätte? Zuvor müssten solche neuen Strukturen bei der Bevölkerung besser bekannt gemacht werden. Während der Sachverständigenrat in seinem Gutachten 2018 die in Präsenz betriebenen INZ noch als wichtigen Baustein gesehen hatte, können sie sinnvoller nur an geeigneten Klinikstandorten implementiert werden.
Das ambulante System wird aber gefordert sein, sofort verfügbare Kapazitäten zur Versorgung vermittelter Notfälle anzubieten. Bei der Unfallversorgung ist dies für O&U schon jetzt sicher kein Problem.
Von Seiten des BVOU lautet daher die Forderung, dass die Patientensteuerung bei Unfällen hin zu einem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie erfolgen muss. Das evtl. sogar verpflichtende vorherige Aufsuchen hausärztlicher Praxen oder Portalpraxen macht da keinen Sinn – eine Röntgenuntersuchung, ein separater Eingriffsraum sind heute Standard bei der Versorgung Unfallverletzter. Geeignete fachärztliche Praxen, z. B. sämtliche D-Arztpraxen, sind daher zu identifizieren, bei den Leitststellen zu registrieren und die entsprechenden Algorithmen anzupassen. Diese Praxen könnten in den Kernzeiten, zu denen 80 Prozent der Unfälle passieren, die chirurgischen Krankenhausambulanzen relevant entlasten.
Die Forderung nach einem Facharztstandard muss selbstverständlich nicht nur für Unfälle gelten, sondern gilt auch bei den allgemeinmedizinischen Fragestellungen: Es kann unter Qualitätskriterien nicht befriedigen, dass in den Portalpraxen auch Fachärzte für Augenheilkunde, Radiologie oder Pathologie und andere Fachfremde zu fiebernden Kindern gerufen werden oder der Orthopäde oder Dermatologe kardiale Probleme zu beurteilen hat.
Schwieriger dürfte es auch beim Management „gefühlter“ Notfälle werden, denn selbstverständlich ist aus Patientensicht beispielsweise auch der eigene Rückenschmerz immer ein unbedingt taggleich fachärztlich zu versorgender Fall. Und da könnte es zwischen Ansicht des Patienten und ärztlicher Auffassung durchaus schon einmal differente Einschätzungen geben. Hier lautet die Forderung des BVOU ein verpflichtendes Ticketing für Walk-in-Notfälle zu schaffen. Dieses telefonisch erhältliche Ticket muss jeder am Ambulanztresen vorweisen, um die ansonsten erforderliche Selbstbeteiligung zu umgehen. Hierdurch können Diskussionen um Selbstbeteiligungen zwischen Ärzten und Patienten vermieden werden
Ein wichtiger Punkt wird im Papier ausgeklammert: Die Frage nach der auskömmlichen Finanzierung der ambulanten Notfallversorgung: Die Unterfinanzierung führt im Krankenhausbereich dazu, dass Kliniken, die 24/7 eine Bereitschaft vorhalten, gegenüber den „Elektivkliniken“ klar im Nachteil sind, so dass die Notfallambulanz quersubventioniert wird. Bei den Portalpraxen führt dies dazu, dass zur Subventionierung die niedergelassenen Kollegen in Form von immer höher werdenden Kopfpauschalen herangezogen werden. Eine absurde Situation: Man stelle sich vor, dass die Kollegen bei der Berufsfeuerwehr (wirtschaftlicher Deckungsgrad der Feuerwehren je nach Kommune bei ca. 30 %) von Ihrem Gehalt einen solidarischen Beitrag zur Finanzierung ihrer Rettungswache leisten sollten.
Notfalldienst ist Daseinsfürsorge und gehört dementsprechend unabhängig von den „Erlösen“ finanziert. Gerade im D-Arztbereich sind dabei hohe Vorhaltekosten und Qualitätsanforderungen zu berücksichtigen.
Hier lautet die Forderung des BVOU: Der Notfalldienst ist vollumfänglich vorzufinanzieren, die Erlöse aus den Pauschalen sind als Abschlagszahlungen zu definieren, Minder- oder Mehrerlöse sind das wirtschaftliche Risiko der Kostenträger.
Dr. med. Burkhard Lembeck
Prof. Dr. med. Alexander Beck
Dr. med. Johannes Flechtenmacher
Dr. med. Karsten Braun, LL. M.
Dr. Gerd Rauch