Die Prävalenz von vertebralen Deformitäten in Deutschland beträgt in der Gruppe der 50- bis 79-jährigen für Frauen 18,7 %;1 hochgerechnet sind somit ca. 2,2 Mio. Frauen von Wirbelkörperdeformitäten und deren Folgen betroffen.2
Wirbelsäulenorthesen galten in der Osteoporose-Therapie lange Zeit als etablierte Säule bei akuten Wirbelfrakturen.3 Diese Einschätzung stützt sich nicht nur, aber insbesondere auf Untersuchungen mit aktivierenden Spinalorthesen.u. a. 4–6 Die aktualisierte Leitlinie „Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose“ DVO7 belegt den Evidenzgrad zum Einsatz von Rückenorthesen zur frühen Mobilisierung bei akuten, stabilen osteoporotischen Frakturen allerdings lediglich mit einer „kann“ Empfehlung (Empfehlungsgrad 0). Rationale für diese Entscheidung ist die Meta-Analyse (2015) von Jin et al.,8 die bei osteoporotischen Frakturen zwar signifikant positive Effekte (Schmerz, Kyphosewinkel, QoL) der Spinomed-Orthese erfasst, aufgrund limitierter methodischer Studienqualität aber nur eine sehr schwache Empfehlung ausspricht. Ziel der vorliegenden Arbeit, die sich mit den Effekten multifunktionaler Spinalorthesen*
*„Spinomed Active“ (medi, Bayreuth): wirbelsäulenaufrichtende Aktivorthese
zur Entlastung und Korrektur der Lendenwirbelsäule / Brustwirbelsäule
auf u. a. Rückenschmerzen und Kyphosewinkel bei mehr als 3 Monate zurückliegenden osteoporotischen Frakturen beschäftigt,9 war es daher, belastbare Evidenz zur Empfehlung von Spinalorthesen innerhalb des Spannungsfeldes der osteoporotischen Wirbelkörperfraktur zu belegen. Unsere Hypothesen waren, dass die „Spinomed Active“-Orthese (a) die Intensität von Rückenschmerzen, (b) den Kyphosewinkel in aufrechter Position, (c) die maximale Rumpfkraft, (d) die funktionelle Kapazität im „chair-rise“ und (e) die Rückenschmerzinduzierten Beeinträchtigungen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe signifikant positiv beeinflusst.
Methodik
Zur Verifizierung der Hypothesen wurde eine randomisierte, kontrollierte, semi-verblindete Studie (RCT) im Parallelgruppendesign durchgeführt (ClinicalTrials.gov: NCT04854629). Die mittels formaler Fallzahlanalyse ermittelte Teilnehmeranzahl von 80 Teilnehmern wurde balanciert und für Teilnehmer und Untersucher verdeckt einer Orthesen- (SOG: n=40) und einer Kontrollgruppe (KG: n=40) zugeordnet. Einschlusskriterien waren (a) selbstständig lebende Frauen ≥65 Jahre Lebensalter, (b) ≥1 niedrig-traumatische Wirbelfraktur vor ≥3 Monaten, (c) chronische Rückenschmerzen mit einer Rückenschmerzintensität (NRS 0-10) ≥1 und (d) Hyperkyphose. Ausschlusskriterien umfassten (a) andere Medikation als Analgetika (z. B. Glukokortikoide) oder Erkrankungen (z. B. rheumatoide Arthritis) mit relevantem Einfluss auf die Studienergebnisse, (b) sekundäre Osteoporose, (c) zu erwartende Änderungen der Schmerztherapie, (d) eine strukturell fixierte Kyphose, (e) Kyphoplastie / Vertebroplastie, sowie (g) eine Verwendung von Wirbelsäulenorthesen in den letzten 6 Monaten. Eine Verblindung auf Studienleiter- und Teilnehmerebene konnte aus nachvollziehbaren Gründen nicht durchgeführt werden. Hingegen war allen an Tests und Analyse beteiligten Untersuchern der Gruppenstatus unbekannt.
Die Teilnehmer der SOG wurden, meist als Standardversorgung, mit der „Spinomed Active“-Orthese (medi GmbH & Co. KG, Bayreuth, Deutschland) ausgestattet (Abb. 1). Die Orthese wurde jeweils individuell von einer Orthopädietechnikerin angepasst und eingewiesen. Nach zwei und acht Wochen der 16-wöchigen Intervention wurden die Orthesen von derselben Orthopädietechnikerin überprüft und, falls erforderlich, angepasst. Die Orthesen- und Kontrollgruppe wurden in zweiwöchentlichem Abstand kontaktiert, um Veränderungen von Größen, die das Studienergebnis beeinflussen können, zu überwachen sowie (SOG) die Compliance mit dem Trageprotokoll zu überprüfen und Probleme beim Tragen oder im Umgang mit der Spinalorthese zu erfassen.
Während der 16-wöchigen Intervention wurde die Orthese in den ersten beiden Wochen über 2 Stunden/d, ab Woche 3 zweimal 2 Stunden / d tagsüber, bei alltäglichen körperlichen Aktivitäten getragen. Die tägliche Tragedauer wurde mittels Protokollen erfasst. Lebensstil inklusive körperlicher Aktivität, Physiotherapie, Medikation und andere Aspekte, die sich auf unsere Ergebnisse auswirken können, sollten während des Interventionszeitraums beibehalten werden.
Neben Körpergröße, -masse und -zusammensetzung wurde der Kyphosewinkel mittels Debrunner-Kyphometer (Protek, Bern, Schweiz) von einem Punkt zwischen den Dornfortsätzen des zweiten bis dritten Brustwirbels und einem zweiten Punkt zwischen den Dornfortsätzen von T11 und T12 in jeweils aufrechter, aktiv gestreckter Position bestimmt. Die Schmerzintensität an der Wirbelsäule“, als primärer Studienendpunkt, wurde mittels numerischer Bewertungsskala (NRS 0-10: 0=keine bis 10=schlimmst-mögliche Schmerzen) über einen Zeitraum von vier Wochen vor Interventionsbeginn und während der letzten 4 Wochen der Intervention via standardisierter Protokolle täglich erfragt. Die durchschnittliche Schmerzintensität der 4-wöchigen Abschnitte wurde in die Analyse einbezogen. Parallel dazu wurden die Teilnehmer gebeten, die tägliche Schmerzmedikation in ihren Protokollen zu vermerken. Rumpfstreckung und Rumpfbeugung wurde mit einem isometrischen Kraftmessgerät (Back-Check® 607, Dr. Wolff, Arnsberg, Deutschland) evaluiert. Mittels „30 s Chair-Rise-Test” wurde zudem die Kraft und Funktionalität der unteren Extremitäten ermitteln. Die deutsche Version des 24-teiligen Roland-Morris Disability Questionnaire wurde verwendet, um Rückenschmerz-induzierte Beeinträchtigungen zu erfassen.
Zur Analyse der Daten wurde eine Intention-to-Treat-Analyse (ITT) mit multipler Imputation durchgeführt. Nach der Überprüfung der Normalverteilung wurden die prä-post Gruppenunterschiede durch abhängige t-Tests mit gepoolter SD adressiert. Mit Hilfe einer ANCOVA (Analysis of Covariance) wurden die Gruppenvergleiche auf die jeweiligen basalen Daten adjustiert. Alle Tests wurden 2-seitig angelegt, Signifikanz wurde bei p <0,05 akzeptiert.
Ergebnisse
Bei vergleichbaren „Lost to follow-up“-Raten in Orthesen- und Kontrollgruppe (n=6 vs. n=8), brach eine Teilnehmerin der SOG die Studie wegen Hüftbeschwerden ab die nicht in Zusammenhang mit der Orthese standen, eine andere Teilnehmerin mit Harninkontinenz gab an, durch die Orthese Schwierigkeiten beim raschen Toilettengang zu haben. In wenigen Fällen berichteten Patientinnen durch das Tragen der Orthese initiale Muskelschmerzen, Schulterprobleme beim Einbringen und Entfernen der Aluminium-Rückenschiene der Orthese (bei bereits bestehender Schulterproblematik) sowie leichte Hautirritationen (Rötungen).
Bei vergleichbaren basalen Charakteristika der Teilnehmer zu Studienbeginn zeigte sich eine signifikante Reduktion der durchschnittlichen Rückenschmerzintensität in beiden Studiengruppen, die allerdings in der Orthesen- (SOG) verglichen mit der Kontrollgruppe signifikant stärker ausgeprägt (p=.008) war (Tab. 1). Die Schmerzmitteleinnahme zeigte eine sehr hohe Varianz und unterschied sich bei niedrigerer Einnahme in der KG zu Studienbeginn erheblich (p=.054). Zum Untersuchungsende zeigte diese Größe eine Halbierung in der Orthesen- (p=.010) und eine ca. 50 % Zunahme in der KG (p=.201). Der korrespondierende Zwischengruppenunterschied lag grenzwertig nicht signifikant (p=.056).
Der Kyphosewinkel der KG-Gruppe zeigte keine wesentliche Veränderung (p=.61), aber nahm in der SOG-Gruppe signifikant ab (p<.001). Der korrespondierende Zwischengruppen-unterschied war signifikant (p<.001) (Tab. 1). Eine parallele Entwicklung zeigte die Rumpfkraft als Index aus Rückenextension und -flexion, die in der SOG signifikant anstieg (p<.001) und in der KG weitgehend unverändert (p=.20) blieb. Auch hier waren die entsprechenden Unterschiede zwischen den Gruppen (grenzwertig) signifikant (p=.049) (Tab. 1). Etwas geringere Effekte zeigten sich für den chair-rise Test (p=.062) (Tab. 3), der lediglich in der SOG (p=.001), nicht jedoch der KG (CG: p=.43) signifikant anstieg. Schließlich zeigte der Roland-Morris Disability Fragebogen eine signifikant positive Entwicklung in der Orthesengruppe (p=.001) bei weitgehend unveränderten Werten in der KG (p=.46). Der Effekt im Sinne des Zwischengruppenunterschieds der Veränderung war dabei signifikant (p<.001).
Wichtig erscheint, dass keine relevante Veränderung von Größen mit Auswirkung auf unsere primären oder sekundären Endpunkte, zumindest durch die einschlägigen Fragebögen und standardisierten Interviews der Untersuchung erfasst werden konnten.
Zusammenfassend können die vorgelegten Hypothesen, dass die „Spinomed Active“-Orthese (a) die Intensität von Rückenschmerzen, (b) den Kyphosewinkel in aufrechter Position, (c) die maximale Rumpfkraft und (e) Rückenschmerz-induzierte Beeinträchtigungen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe signifikant positiv beeinflusst, bestätigt werden. Günstige, aber nicht signifikante Effekte (p=.06) können für die die funktionelle Kapazität vorgelegt werden.
Diskussion
Die vorliegende Studie belegt die positiven Auswirkungen der „Spinomed Active“-Orthese auf die Intensität von Rückenschmerzen bei hyperkyphotischen Frauen mit älteren (≥3 Monate) Wirbelkörperfrakturen mit hoher Evidenz. Parallel zeigten sich signifikant positive Effekte auf rückenschmerzbedingte Limitationen des Alltags, was umso bemerkenswerter ist, als das sich der Schmerzmittelgebrauch in der Orthesengruppe halbierte und in der KG um ca. 50 % Anstieg. Neben der Verbesserung der Rumpfkraft ist der positive Einfluss auf die Hyperkyphose ein frakturrelevantes Ergebnis, da die anteriore Verlagerung des Körperschwerpunkts mit einer erhöhten Sturzneigung korrelieren kann.10, 11 Grundsätzlich bestätigt werden diese Daten von mehreren Interventionsstudien. So werden positive Effekte auf Rückenschmerzen,4, 6, 12–14 Kyphosewinkel, 4, 14, 15 Rumpf- bzw. Rückenkraft6, 13 und Lebensqualität4, 5, 13 berichtet. Den positiven Daten der Einzelstudien stehen sehr zurückhaltende Empfehlungen von Übersichtsarbeiten entgegen. Neben Jin et al.8 geben auch Hofler et al.16 und Pierroth et al.17 aufgrund scheinbar limitierter methodischer Evidenz und Studienlage keine oder nur sehr bedingte Empfehlungen für den Einsatz von Spinalorthesen – unabhängig davon ob es sich um akute oder subakute Wirbelkörperfrakturen handelt. Alle genannten Übersichtsarbeiten schließen trotz z. T. neuerem Erscheinungsdatum, 17 Studien nach 2020 nicht mit ein. Relevante
Untersuchungen der letzten Jahre werden somit nicht berücksichtigt (s. o.). Zumindest für die letztere Fragestellung der „subakuten“ (hier ≥3 Monaten) niedrig-traumatischen Wirbelfraktur liefert die vorgelegte Arbeit nun klare positive Evidenz für den Einsatz wirbelsäulenaufrichtender Aktivorthesen (hier: „Spinomed Active“ medi, Bayreuth) zur Verbesserung von Rückenschmerz, Hyperkyphose, Rumpfkraft und Rückenschmerz-induzierten Beeinträchtigungen.
Literatur auf Anfrage bei der Redaktion.