Verkehrsmedizinische Begutachtungen auf dem Gebiet von Orthopädie und Unfallchirurgie werden veranlasst, wenn aufgrund von entsprechenden Gesundheitsstörungen Zweifel an der generellen Fahreignung (§ 2 Abs. 4 StVG1) bestehen. Hiervon abzugrenzen sind vorübergehende Einschränkungen der Fahrtauglichkeit, wie sie nach Verletzungen oder Operationen vorkommen.
Die alltäglich vorkommenden Fragen zur Fahrtauglichkeit erfordern keine verkehrsmedizinische Begutachtung, sondern nur entsprechende Empfehlungen des Arztes an seinen Patienten; jeder Arzt muss solche Empfehlungen aussprechen können und dabei die weitreichenden Konsequenzen für den Betroffenen, die Straßenverkehrssicherheit und den Arzt bedenken. Zu Fahreignung und Fahrtauglichkeit gibt es wenig wissenschaftliche Literatur, jedoch hilfreiche Handreichungen mit entsprechenden Empfehlungen.2, 3, 4
Jeder Arzt ist auch verpflichtet, Patienten unaufgefordert darüber aufzuklären, wenn er eine fehlende oder eingeschränkte Fahreignung festgestellt hat. Missachtet ein Patient ein ärztliches Fahrverbot, macht er sich u. U. strafbar (§ 315c Abs. 1 Nr. 1, § 316 StGB). In bestimmten Fällen werden vom Arzt in Abhängigkeit einer individuellen Wertung sogar darüberhinausgehende Maßnahmen verlangt, wenn der Patient dem Fahrverbot nicht folgt. Für Verletzungen der ärztlichen Schweigepflicht kann ein rechtfertigender Notstand vorliegen (§ 34 StGB).
Die selten vorkommenden Gutachten zur Fahreignung hingegen dürfen nur von Ärzten mit
einer verkehrsmedizinischen Qualifikation erstellt werden, die nach Curriculum „Verkehrsmedizinische Begutachtung“5 erlangt werden kann. Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie mit dieser Qualifikation werden in der Regel anlassbezogen mit verkehrsmedizinischen Begutachtungen zur Fahreignung beauftragt, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche Eignung eines Fahrerlaubnisinhabers oder -bewerbers an den Tag bringen und diese auf dem Fachgebiet
O&U begründet sind. Dies ist typischerweise beim Erstantrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis, nach konkreten Vorkommnissen oder nach zufälligen Polizeikontrollen der Fall. Fragestellungen auf anderen Fachgebieten, z. B. zum Problemkreis Alkohol, dürfen fachgebietsfremd nicht begutachtet werden. Begutachtung eigener Patienten sollen nicht erfolgen (§ 11 Abs. 2 Nr. 5 FeV6). Die Fahrerlaubnisbehörde ordnet innerhalb einer gesetzten Frist die Beibringung eines Gutachtens auf Kosten der zu begutachtenden Person an (§11 Abs. 6 FeV) und formuliert die Fragestellung an den von der zu begutachtenden Person gewählten Arzt unter Überlassung der relevanten Akteninhalte. Ärzte, die mit der Erstellung beauftragt werden, müssen die Begutachtungsgrundsätze
nach Anlage 4a zu § 11 Abs. 5 FeV beachten. Neben der Fahrerlaubnisverordnung mit ihren Anlagen ist insbesondere die regelmäßig aktualisierte Begutachtungs-Leitlinie zur Kraftfahrteignung8 mit ihren allgemein anerkannten Leitsätzen für die Begutachtung relevant. Der Gutachter darf in besonderen Fällen hiervon abweichen, dann allerdings mit einer besonderen Darlegungs- und Begründungslast.
Abb. 1A–D
18-jährige Führerscheinanwärterin mit durch Orthoprothese ausgeglichener Beinverkürzung re. 11 cm, geringer Verschmächtigung des re. Beines, endgradig eingeschränkter Hüftgelenk- und Kniegelenkfunktion re. sowie Spitzfußkontraktur re. bei
angeborenem proximalem Femurdefekt re. und Fibulahypoplasie re, mehrfach operativ
behandelt. Verkehrsmedizinische Fragestellung nach Fahreignung für KFZ
der Klasse B wurde bejaht mit der Auflage, die vorhandene Orthoprothese
beim Führen des Fahrzeugs zu tragen.
Abb. 2A–C
53-jährige Frau mit Z. n. Rückfußamputation re. nach Chopart infolge Thrombangitis obliterans. Verkehrsmedizinische Begutachtung mit der Frage der Fahreignung von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 und 2 wurde bejaht mit Auflagen und Beschränkungen: Obligates Tragen der Prothese/Orthese, damit beim Führen von mehrspurigen Kfz bis
3,5 t zGG keine Beschränkungen. Bei mehrspurigen Kfz über 3,5 t zGG und lof Zugmaschinen (Ackerschlepper) Beschränkung auf Fahrzeuge mit Bremskraftverstärker
oder Fremdkraftbremsanlage sowie Dauerbremse bei automatischer Kupplung
ohne Abstellen des Motors während der Fahrt. Beim Führen von Krafträdern müsste eine Hinterradbremse links bei Fußschaltung mit linker Ferse zu betätigen sein und Kupplung/Schaltung mit Hand oder Schaltung mit linker Fußspitze zu betätigen sein.
Typische Begutachtungsanlässe auf unserem Fachgebiet sind Einschränkungen der Übersicht im Straßenverkehr, z. B. durch Minderwuchs oder Wirbelsäulenfehlbildungen, sowie Funktionsminderung oder -verlust an oberen oder unteren Extremitäten, z. B. durch Dysmelien, Kontrakturen, starke Bewegungseinschränkungen oder Amputationen. Bei der gutachterlichen Beurteilung spielt die Frage einer möglichen Kompensation eine entscheidende Rolle. Unverzichtbar für Fahreignung sind die Möglichkeit zum Ein- u. Aussteigen ins Fahrzeug, zum Verladen notwendiger Hilfsmittel, ausreichende Übersicht und die Bedienung von Betriebs- und Feststellbremse, Schaltung, Gas, Lenkung, Scheibenwischer, Fenstern, Hupe, Blinker, Licht und Außenspiegel – jeweils ohne
Loslassen des Lenkrads – sowie die Fähigkeit zur Absicherung liegengebliebener Fahrzeuge. Ergibt die Untersuchung, dass die festgestellten Beeinträchtigungen ein stabiles Leistungsniveau bedingt gewährleisten oder dass besondere Bedingungen
die Gefahr des plötzlichen Versagens abwenden können, schlägt der Gutachter in Form von Auflagen oder Beschränkungen die Bedingungen vor, die vom begutachteten Verkehrsteilnehmer erfüllt werden müssen, um eine „bedingte Fahreignung“
zu erreichen (§ 46 FeV). Auflagen richten sich an den Führer eines Fahrzeugs, z. B. ein bestimmtes Hilfsmittel zu nutzen oder sich in zeitlichen Abständen ärztlichen Nachuntersuchungen zu unterziehen. Beschränkungen grenzen den Geltungsbereich einer Fahrerlaubnis auf bestimmte Fahrzeugarten oder Fahrzeuge mit besonderen Einrichtungen wie Handgasbetätigung oder Fußgas links, Lenkhilfen, Automatikgetriebe u. a. ein. Empfohlene Maßnahmen für Gesundheitsstörungen auf dem Fachgebiet O&U finden sich im Kapitel 3.3 „Bewegungsbehinderungen“, 3.9 „Krankheiten des Nervensystems“ und in den Abschnitten 2.1 bis 2.16 des Anhangs B der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung und werden später im Feld 12 des Führerscheins mit sog. Schlüsselzahlen9 nach Anlage 9 zu § 25 Abs. 3 FeV beziffert. Eine differenzierte indikationsbezogene Darstellung ist in diesem Übersichtsartikel mit limitiertem Umfang nicht möglich. Für mitunter teure Fahrzeugumrüstungen gibt es spezialisierte Unternehmen. Diese bieten ergänzend zu den sich durch Beschränkungen ergebenden Maßnahmen auch weiteres, zum Teil technisch beeindruckendes Fahrzeugzubehör an, welches Menschen mit handicaps eine Fahrzeugnutzung erleichtert, wie Ein u. Ausstiegshilfen, Rollstuhlverlade- und halterungssysteme, Heckausschnitte, Rampen oder
Liftsysteme. Die Kenntnis solcher Möglichkeiten ist auch in der Patientenberatung hilfreich. Üblich ist ergänzend zur ärztlichen Begutachtung auch eine Fahrprobe der zu begutachtenden Person mit einem amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr.
Zusammenfassend ist verkehrsmedizinische Begutachtung eine verantwortungsvolle Aufgabe, die außer medizinischen auch juristische und technische Kenntnisse erfordert. Wenngleich Sicherheit im Straßenverkehr stets an erster Stelle steht, muss immer auch darauf geachtet werden, dass an behinderte Verkehrsteilnehmer im Vergleich mit nicht Behinderten keine unangemessen überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen.
Behinderte sind zum Erhalt ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe in besonderem Maße auf die Möglichkeit zur selbständigen Teilnahme am Straßenverkehr angewiesen. Die Begutachtung sollte, wenn vertretbar, immer gerade auch in der Intention erfolgen, eine Straßenverkehrsteilnahme ggf. unter Auswahl geeigneter Auflagen und Beschränkungen zu ermöglichen und eben nicht zu verhindern.
Dr. med. Karsten Braun, LL. M.
BVOU-Referat Presse/Medien
Literatur auf Anfrage bei der Redaktion