Der chronische, therapieresistente Rückenschmerz umfasst gleichzeitig somatische, psychische und soziale Dimensionen, die idealerweise durch ein interdisziplinäres Assessment erfasst werden und einer multimodalen Therapie bedürfen.
Tabelle 1: Indikationskriterien für ein interdisziplinäres multimodales Therapieprogramm (nach Arnold et al. 2019)
- Hohe Erkrankungsschwere mit erheblichen biopsychosozialen Konsequenzen
- Fehlschlag einer vorherigen unimodalen Schmerzbehandlung, eines schmerzbedingten operativen/interventionellen Eingriffs oder einer Entzugsbehandlung
- Schmerzbedingte Beeinträchtigung der Lebensqualität und des Lebensvollzugs
- Somatische oder psychosoziale Begleiterkrankung mit nachweisbarem Einfluss auf das Schmerzgeschehen
- Die psychischen und sozialen Belastungen sind nicht Ausdruck einer eigenständigen psychiatrischen oder zerebralen Erkrankung
- Vorliegen von Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung
Unter interdisziplinärer multimodaler Therapie wird die gleichzeitige, in der Vorgehensweise integrierte sowie konzeptionell abgestimmte Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen verstanden. Ärzte mehrerer Fachrichtungen, Psychotherapeuten und Physiotherapeuten gehören ständig zum Behandlungsteam. Obligat sind die gemeinsame Beurteilung des Behandlungsverlaufs innerhalb regelmäßiger Teambesprechungen und die Einbindung aller Therapeuten (Casser 2013). Dabei erfolgt die Diagnostik und Behandlung nach einem integrativen Konzept mit verhaltensmedizinischer Orientierung. Im Vordergrund stehen die medizinische und psychotherapeutische Behandlung, die Edukation, Entspannungsverfahren und körperliche Übungsprogramme (Arnold et al. 2009).
Im DRG-System ist diese Therapieform durch die OPS 8-918 fest etabliert und damit auch vergütungsrelevant.
Die Programme können ambulant, teilstationär oder stationär durchgeführt werden. Die Evidenzlage multimodaler Schmerztherapie ist vor allem beim Rückenschmerz inzwischen unstrittig (Flor et al. 1992, Guzman et al. 2002, Schonstein et al. 2002, Jensen et al. 2009, Hildebrandt u. Pfingsten 2009). Auch im Hinblick auf die Kosten konnte nachgewiesen werden, dass multimodale Therapieprogramme beim Rückenschmerz nachhaltig erfolgreich sind und eine deutliche Kostenreduktion im weiteren Handlungsverlauf bewirken (Nagel u. Korb 2009).
Voraussetzung eines multimodalen Therapieprogramms sollte die Indikationsprüfung (s. Tab. 1) durch ein interdisziplinäres Schmerzassessment (Casser 2016) sein, wie es bei Therapieresistenz nach spätestens 6 bzw. 12 Wochen gefordert wird (NVL 2017).
Interdisziplinäres multimodales Assessment
Rückenschmerzpatienten mit rezidivierenden oder anhaltenden Schmerzen, die sich noch im Beginn des Chronifizierungsprozesses finden, aber ein erhöhtes Risiko zur Chronifizierung aufweisen, wie aber auch Patienten, die sich bereits in einem höheren Chronifizierungsstadium befinden und bei denen eine bisherige mono- oder multidisziplinäre Behandlung nicht zum Erfolg geführt hat, sollten eine fundierte Beurteilung durch ein interdisziplinäres Assessment erfahren (Casser 2016). Dieses Assessment sollte ergebnisoffen durchgeführt werden, woraus sich unterschiedliche Konsequenzen ergeben können:
Eine Weiterbehandlung ambulant beim Haus- bzw. Facharzt mit konkreten Therapieempfehlungen bzw. die Einleitung eines ambulanten, teilstationären oder stationären multimodalen Therapieprogrammes in Abhängigkeit von den Ergebnissen des Assessments, der Prognose des Rückenschmerzes sowie der individuellen Gegebenheiten (Arnold 2009).
Die Bestandteile des Assessments werden bereits durch den OPS-Kode 1 -910 „multidisziplinäre algesiologische Diagnostik“ beschrieben. Hinsichtlich eines interdisziplinären Assessments vor umfassender multimodaler Schmerztherapie wurden die Inhalte, die beteiligten Disziplinen und der Umfang eines Assessments von der Adhoc-Kommission „multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ der Deutschen Schmergesellschaft e.V. erarbeitet (Casser et al. 2013).
Tabelle 2: Bestandteile eines interdisziplinären, multimodalen Schmerzassessments
- Ausführliche medizinische Anamnese und orientierende körperliche Untersuchung (orthopädisch, neurologisch, ggf. rheumatologisch), ggf. ergänzende zusätzliche bildgebende und elektroneurographische Verfahren und invasive Maßnahmen sowie Testverfahren und standardisierte klinische Interviews,
fakultativ unter Hinzuziehung weiterer med. Fachbereiche - Psychologisch/psychosomatische Diagnostik mit Anamnese, Verhaltensbeobachtung und Erhebung des psychopathologischen Status
- Physio-, Moto-, ergotherapeutische Befundung
- Sozialmedizinische Beurteilung
- Teambesprechung mit zusammenfassender Diagnosebeschreibung und Abstimmung des weiteren Vorgehens, ggf. individuelles Therapieprogramm
- Abschlussgespräch mit dem Patienten
Vorzugsweise sollte die Dokumentation dieses Assessments vollständig und standardisiert erfolgen, vorzugsweise anhand des KEDOQ- Schmerzdatenerfassungs-und Auswertungssystems mit Strukturdaten, Kerndatensatz inklusive Deutscher Schmerzfragebogen (DSF), Bestimmung des Chronifizierungsgrades (MPSS), Erfassung der Schmerzdiagnose sowie der relevanten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen (Casser et al 2013).
Bei den Qualitätsanforderungen eines Rückenschmerz-Assessments, wie sie bereits das Experten-Panel der Bertelsmannstiftung (2007) formulierte, sollte bezüglich der Behandlerklassifikation der Schmerztherapeut mit fortlaufender Rezertifizierung, der Orthopäde mit der Zusatzqualifikation „Manualmedizin“, der ärztliche und psychologische Psychotherapeut mit schmerztherapeutischer Qualifikation, der Neurologe, der Physiotherapeut mit manualmedizinischen Kenntnissen von Alltags- Funktions und Belastungstests sowie schmerztherapeutischer Erfahrung sowie ein wirbelsäulensäulenchirurgisch tätiger Facharzt zur Beurteilung operativer Optionen bzw. vorangegangener operativer Maßnahmen hinzugezogen werden.
Die Beteiligung operativ tätiger Orthopäden und Neurochirurgen hat sich beim Rückenschmerz als sinnvoll herausgestellt, um einerseits auch diese Maßnahmen frühzeitig zu diskutieren bzw. im Vorfeld gestellte Operationsindikationen interdisziplinär zu beurteilen, auch mit dem Ziel einer differenzierten Patientenaufklärung. Sie setzt allerdings grundlegende schmerztherapeutische Erfahrung des Operateurs und vorbehaltlose Aufnahme in das Assessment-Team voraus.
Therapieinhalte der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie
Zentrale Bausteine der IMST sind die medizinische und psychologische Behandlung, die Edukation, die Entspannung und körperlich übende Verfahren.
Die Therapie beruht auf einer gemeinsamen „Philosophie“ der Einschätzung und Behandlung chronischer Schmerzen mit dem Ziel einer funktionellen Schmerzverarbeitung und der körperlichen, psychischen und sozialen (Re-) Aktivierung des Patienten (Arnold et al. 2014). Dazu gehört auch eine enge Verlaufskontrolle in Form von Teamsitzungen, in dem alle Behandler die Zielsetzung, Behandlungsfortschritte und Probleme erörtern. Diese sollte mindestens einmal pro Woche stattfinden zusätzlich zur ständigen Absprache zwischen den Teammitgliedern und der täglichen Visite. Das Zusammentragen verschiedener Erkenntnisse aus Anamnese und Behandlung des Patienten und die gemeinsam abgestimmte, ständig zu aktualisierende Behandlungsstrategie bedeutet, dass die Gesamtbehandlung deutlich wirksamer ist als die Einzelmaßnahmen der multimodalen Behandlung (Huge et al. 2010, Pfingsten 2001). Dies setzt eine professionelle, wertschätzende, empathische und ressourcenorientierte therapeutische Haltung aller Teammitglieder gegenüber dem Patienten, aber auch untereinander voraus. Dabei sind auch die Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten der einzelnen Fachbereiche und ihrer Methoden kritisch zu reflektieren, zumal häufig eine kausale Behandlung nicht oder nur begrenzt möglich ist.
Nach einem ausführlichen interdisziplinären Assessment erfolgt die indikationsbezogene Auswahl der Vorgehensweise durch Erstellung eines individuellen Behandlungsplanes, in dem die Ressourcen des einzelnen Patienten berücksichtigt werden (Arnold et al. 2014). Zu den interdisziplinären Maßnahmen im engeren Sinne zählt auch die interdisziplinäre Visite mit Beteiligung aller behandelnder Ärzte, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Pflegetherapeuten und Sozialarbeitern mit möglichst zeitnaher Besprechung unter dem Eindruck des Patientenkontaktes, der bei der Visite im Vordergrund stehen sollte. Zusätzlich eignen sich zur intensiven Versorgung insbesondere bei Problemfällen interdisziplinäre Fallbesprechungen sowie gemeinsame Untersuchungen am Krankenbett oder in den Therapieräumen mit fachübergreifender Besetzung.
Kriterien einer echten Interdisziplinarität ist das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung, die Durchführung gemeinsamer Untersuchungen und Befunderhebung, ein transparenter Kommunikationsprozess und ein ständiger Informationsaustausch innerhalb des Teams mit Vermeidung diagnostischer oder therapeutischer „Auftragsarbeiten“ (Loeser 1998).
Besondere ärztliche Aufgaben
Ärzte verschiedener Fachrichtungen tragen in interdisziplinärer Absprache die medizinische und rechtliche Verantwortung für den Patienten. Dies beinhaltet eine fachlich korrekte Diagnostik und Bewertung, die Überprüfung der Behandlungsindikation, die Risikoaufklärung sowie die Therapie nicht nur der Schmerzen, sondern auch bestehender Komorbiditäten bis hin zu Kommunikation mit medizinischen Diensten und Kostenträgern (Arnold et al. 2014).
Spezielle ärztliche Aufgaben sind die tägliche Visite, die Aufklärung und Edukation des Patienten, die spezielle medikamentöse Schmerztherapie (Ein- und -umstellung sowie Entzug) sowie nach sorgfältiger Indikationsstellung gezielte manualmedizinische Maßnahmen bzw. therapeutische lokal- und regionalanästhesiologische Verfahren. Besondere Bedeutung kommt den ärztlichen Einzelgesprächen und Verlaufsuntersuchungen zu, in denen dem Patienten das biopsychosoziale Krankheitsmodell, die Erkenntnisse um Maßnahmen des interdisziplinären Teams sowie individuelle Fragestellungen und Lösungsoptionen dargestellt und diskutiert werden. Außerdem obliegt dem Arzt das Verfassen des Abschlussberichtes auf der Basis der interdisziplinär erhobenen Befunde und mit Formulierung der Diagnosen und des weiteren Vorgehens.
Psychotherapeutische Behandlungsaspekte
Psychotherapeutische Diagnostik und Therapie erfolgt beim chronischen Rückenschmerzpatienten in der Regel in einem multimodalen interdisziplinären Programm. Darüber hinaus können im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit natürlich Konstellationen auftreten, die eine ambulante oder stationäre Therapie in einem psychosomatischen oder psychotherapeutischen Setting erforderlich machen.
Aus Erfahrung ist es jedoch zwingend die Aufgabe der interdisziplinären multimodalen Therapie, diese zusätzlichen Behandlungswege auf das individuelle Schmerzgeschehen des Patienten auszurichten, weil ansonsten von dessen Seite die Spaltung von Psyche und Körper weiter aufrechterhalten wird und die Therapieeffekte getrennt nebeneinander stehen (Casser et al. 2013).
Die NVL (2017) empfiehlt zur Therapie des chronischen Kreuzschmerzes die progressive Muskelrelaxation (Jacobson 1939), sowie eine multimodal eingebettete Verhaltenstherapie . Auch tiefenpsychologische Ansätze haben sich in den letzten Jahren entwickelt und werden in multimodalen Einrichtungen angewendet (Senf u Gerlach 2011).
Wesentlich für einen längerfristigen Therapieerfolg ist die systematische Anleitung sowohl von Entspannungsverfahren als auch konkreten verhaltenstherapeutischen Ansätzen mit dem Fokus auf die selbständige Übernahme und Manifestation dieser Ansätze in den Lebensalltag der Patienten.
Das zentrale Behandlungsziel einer multimodalen Therapie chronischer Schmerzen besteht in der Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit („functional restoration“), die mit einer Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls des Patienten einhergeht und ressourcenorientiert therapeutisch unterstützt wird (Arnold et al. 2009).
Im Mittelpunkt steht die Therapie nach den oben genannten Ansätzen, v. a. das Fear-Avoidance – bzw. das Avoidance-Endurance -Modell (Hasenbring u. Verbunt 2010) sowie die Akzeptanz- und Achtsamkeitsförderung.
Für die Vermittlung von veränderten Verhaltensweisen, z. B. konsequente Entspannungs- und körperliche Übungen sowie Ausdauer, die die Patienten nach der multimodalen Therapie aufrechterhalten sollen, bedarf es einer frühzeitigen Fokussierung auf den Transfer in den Alltag, der auch während der Therapie besprochen und zum Teil vollzogen werden muss.
Bewegungstherapie
Der Beitrag der bewegungstherapeutischen Disziplinen, in erster Linie der Physio-Sporttherapie aber auch Ergo- und Mototherapie, beruht in Ergänzung zur ärztlichen Funktionsuntersuchung der Analyse der Bewegungselemente, insbesondere der Einschätzung von Kraft, Beweglichkeit, koordinativen Fähigkeiten und Ausdauer, der Erhebung des Bewegungsstatus und der Beurteilung von Bewegungsverhalten und vegetativer Reaktionen (Arnold et al. 2014). Ziel der bewegungstherapeutischen Maßnahmen ist die möglichst weitgehende Wiederherstellung körperlicher Funktionsfähigkeit und Aktivität in Abstimmung mit den organspezifischen Befunden und den Vorstellungen des Patienten. Gerade in der Physiotherapie müssen bei chronischen Schmerzpatienten erst die oftmals fehlenden Kenntnisse und Erfahrungen der Patienten bzgl. körperlicher Funktionen, aber auch das mangelnde Bewusstsein individueller Einflussmöglichkeiten durch Aufklärung und Anleitung sowie Austausch in der Gruppe verändert werden. Dazu gehört das Aufzeigen von Maßnahmen zur Beeinflussung physiologischer Reaktionen wie z.B. durch Biofeedback. Die häufig vorhandenen Defizite der Körperwahrnehmung, erkennbar an pathologischer Haltung, verändertem Muskeltonus und Bewegungsmustern sowie gestörtem Körperschema, speziell bei chronischen Schmerzpatienten bedarf des Trainings der Körperwahrnehmung bzgl. Sensibilität, Propriozeption und Sinneswahrnehmung, unterstützt durch Biofeedback, EMG, Spiegeltherapie und Ultraschall. Das häufig erhöhte Anspannungsniveau wird mit Tonusregulation durch aktive Variation, Entspannung, gelenkte Wahrnehmung, Atementspannung und Biofeedback versucht zu beeinflussen. Der Veränderung des vegetativen Nervensystems wirken Stressbewältigung durch Bewegung und Sport wie auch Entspannungstechniken und physikalischen Therapiemaßnahmen entgegen. Problembereiche wie körperliche Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung struktureller wie auch funktioneller Veränderungen, Dekonditionierungen aufgrund unangemessener Schonung und Nichtgebrauch, Angstvermeidungsverhalten, mangelndes Vertrauen in die körperliche Leistungsfähigkeit und Fehleinschätzung der körperlichen Leistungsfähigkeit mit einem ausgeprägten Überforderungsverhalten bedarf der fortlaufenden Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Bewegungsorgane (Clinical Reasoning). Desweiteren erstreckt sich das Behandlungsspektrum auch auf einzel- und gruppentherapeutische Maßnahmen zur lokalen und globalen Stabilisation, Mobilisation und Koordinationsverbesserung, Aktivitätssteigerung durch Pacing-Programme, Rekonditionierung durch Sport, Kraft- und Ausdauertraining sowie Eigenübungen, Balancierung von Be- und Entlastung und Entwicklung von Selbsthilfestrategien in Fortsetzung und Vertiefung der parallel stattfindenden Psychotherapie.
Gerade verminderte dysfunktionale körperliche Leistungsfähigkeit durch Schonung bzw. ständiges ausgeprägtes Überforderungsverhalten lassen sich durch Pacing-Programme und Graded Activity oder Konfrontation („Exposure“) in Zusammenarbeit mit den Psychotherapeuten korrigieren. Ebenso gilt dies für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit unterstützt durch Work Conditioning bzw. Workhardening.
Ergebnisse
Prospektive Studien zeigen für die MMST positive und langfristige Effekte hinsichtlich einer Verminderung der Beschwerden sowie der Krankheitssymptomatik und auch der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen für unterschiedliche Schmerzerkrankungen und Patientengruppen (Hechler et al. 2014, Schiltenwolf et al. 2006, Häuser et al. 2009, Brömme et al. 2015, Buchner et al. 2006, Gunreben-Stempfle et al. 2009, Hildebrandt u. Pfingsten 2009, Mattenklodt et al. 2008, Nagel u. Korb 2009, Pöhlmann et al. 2009, Schütze et al. 2009).
Auch international belegen systematische Reviews und Metaanalysen die Effektivität multimodaler Schmerztherapie-Programme beim Rückenschmerz (Kamper et al. 2014), Fibromyalgiesyndrom (Häuser et al. 2009) und weiteren Schmerzsyndromen (Scascighini u. Toma 2008).
IMST ist aber auch bei spezifischen Schmerzsyndromen im Zusammenhang mit psychischen Faktoren effektiv. So zeigten sich bei verschiedenen neuropathischen Schmerzsyndromen hochsignifikante Verbesserungen bezüglich Schmerzintensität und Funktion (Seddigh et al. 2014). Ebenso wird die IMST bei therapieresistenten chronischen Schulterschmerzen mit schmerzunterhaltenem Verhalten empfohlen (Diercks et al. 2014) sowie beim chronischen Kopfschmerz.
Auch im Bereich chronisch-rheumatischer Beschwerden gibt es eine multimodale rheumatologische Komplexbehandlung (OPS 8-983) mit Berücksichtigung der Funktionseinschränkung und des Schmerzausmaßes zu Beginn und am Ende des stationären Aufenthaltes. Steht die Behandlung chronifizierter Schmerzsyndromen insbesondere myofaszieller Beschwerden, Fibromyalgie bzw. stabil eingestellter entzündlich-rheumatische Erkrankungen mit deutlichen psychosozialen Faktoren im Vordergrund, sollte der IMST (OPS 8-918) der Vorzug gegeben werden.
Erste Ergebnisse einer prospektiven multizentrischen Studie zur Effektivität bezüglich Schmerzintensität und Funktionsstatus bei chronischen vertebragenen Schmerzsyndromen mit multimodaler muskuloskelettaler Komplextherapie (OPS 8-977) mit besonderer Berücksichtigung manualmedizinischer und physiotherapeutischer Maßnahmen sowie psychotherapeutischer Beteiligung zeigen bei Abschluss der komplexen Behandlung signifikante Verbesserungen (Smolenski et al. 2014, Niemier et al. 2018).
Eine wirkliche Verbesserung der Versorgung chronisch Schmerzkranker dürfte nur durch eine flächendeckende Implementation multimodaler Schmerztherapie-Programme in das Gesundheitssystem erreicht werden. Dazu müssten die strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen z.B. in Form eines Disease-Management-Programms (DMP Rückenschmerz) geschaffen werden, um die Behandlungsform bei nachgewiesenem Bedarf deutschlandweit und sektorenübergreifend einzusetzen.
Tagesklinische (teilstationäre) Behandlung
In einer schmerztherapeutischen Tagesklinik werden Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen in einer festen Gruppe über einen Zeitraum von drei bis vier Wochen mit einem interdisziplinären multimodalen Behandlungsprogramm behandelt, das heißt, die Behandlung findet werktags in eigenen Therapieräumen statt. Neben Gruppenbehandlungen finden auch Einzelbehandlungen und -gespräche statt. Für die Pausen zwischen den Anwendungen / Therapien steht ein Ruhe- und Rückzugsraum zur Verfügung. Die Fahrt zur Klinik und nach Hause erfolgt in Eigenregie des Patienten.
Inhaltlich finden auch hier die Kriterien der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie ihre Anwendung. In Abgrenzung zur vollstationären Behandlung muss eine psycho-physische Leistungsfähigkeit vorliegen, die eine behandlungstägliche An- und Abreise zulässt. Entscheidend für die Aufnahme in eine teilstationäre Behandlung sind weniger die Schmerzdiagnosen, sondern vielmehr keine wesentliche Mobilitätseinschränkungen, bedingt durch eine kardio-pulmonale Leistungseinschränkung oder auch bedingt durch somatische oder psychische Komorbiditäten. Medikamentenentzüge, insbesondere von Opiaten, sind für eine tagesklinische Behandlung nicht geeignet. Zu beachten ist, dass es nicht immer harte Kriterien sind, die für die eine oder andere Behandlungsform sprechen, sondern dass die Übergänge fließend sein können und es immer wieder am Einzelfall orientierte Entscheidungen im Rahmen des Assessments geben muss. Ein Vorteil der teilstationären Behandlung liegt im Gegensatz zur vollstationären Behandlung darin, dass behandlungstäglich eine Rückkehr in die gewohnten familiären und sozialen Bezüge stattfindet, so dass der Übertrag der therapeutisch intendierten Verhaltensänderungen der teilstationären Behandlung leichter gelingen kann. Andererseits kann im Rahmen einer vollstationären interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie (IMST) gerade die zeitlich befristete Trennung aus einem problematischen privaten bzw. sozialen Umfeld indiziert sein. Für die Behandlungsdauer können damit negative Einflussfaktoren aus dem ambulanten Umfeld der Patienten minimiert werden, die einem Therapieerfolg entgegenstehen.
Die Zuordnung zu den Versorgungssektoren d.h. zur ambulanten oder tagesklinischen ( teilstationären) oder stationären Behandlung erfolgt anhand der Ausprägung der Schmerzerkrankung, deren Chronizität und Komplexität sowie der daraus resultierenden Einschränkungen der Funktionsfähigkeit des Patienten in den verschiedenen Lebensbereichen und der durch Komorbiditäten verursachten Leistungseinschränkungen.
So kommen für eine ambulanten IMST in ersten Linie Patienten in Frage, die noch eine vergleichbar kurze Schmerzgeschichte haben, eher chronifizierungsgefährdet sind bzw. sich in einem frühen Stadium der Chronifizierung (MPSS I/II) befinden, so dass die Erkrankung noch nicht zu umfassenden Veränderungen im Leben des Betroffenen geführt hat. Patienten mit einer ausreichend stabilen psychischen wie auch physischen Belastbarkeit, die noch dazu in der Lage sind , ihren Alltag aufrecht zu erhalten und beruflichen Anforderungen gerecht zu werden, können in die ambulante IMST, sozusagen berufsbegleitend eingeschlossen werden.
Vor allem aus gesundheitlich-ökonomischem Blickwinkel ist die dadurch gegebene Möglichkeit hervorzuheben, Patienten mit erhöhtem Risiko einer Chronifizierung im ambulanten Bereich frühzeitig identifizieren und dieser Entwicklung wirksam entgegenzusteuern zu können (Pfingsten et al. 2019).
Fazit und Ausblick
Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapieprogramme (IMST) orientieren sich an den Behandlungszielen der funktionellen Wiederherstellung („functional restoration“) und einem biopsychosozialen Modell. Die in diesem Konsensuspapier dargestellten Therapieinhalte sind nach der Meinung der beteiligten Experten geeignet, diese Ziele zu erreichen. Sie müssen von einem eng kooperierenden interdisziplinären Behandlungsteam getragen werden. Bisher liegen dafür Erfahrungen vorwiegend aus dem tagesklinischen und stationären Behandlungssetting vor. Niederschwellige ambulant durchgeführte multimodale Programme sind kaum verbreitet und sollten in Zukunft weiter entwickelt und evaluiert werden. Sie müssen sich an den hier diskutierten Prinzipien und Vorgaben orientieren. Die Grundsätze der IMST, nämlich die biopsychosoziale Sicht von Schmerz, multimodale und interdisziplinäre Ansätze in Diagnostik und Behandlung auch akuter Schmerzsyndrome können dazu beitragen, der Chronifizierung von Schmerz entgegenzuwirken.
Prof. Dr. med. Hans-Raimund Casser
DRK Schmerz-Zentrum Mainz
Ärztlicher Direktor
Mainz
Literatur auf Anfrage bei der Redaktion.