Die TI-Datenautobahn ist marode – eine sofortige Betriebsprüfung ist vonnöten! Daher fordert der Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (BVOU) ein sofortiges Aussetzen des Betriebs der Telematikinfrastruktur (TI) und aller mit der Nichterfüllung von TI-Verpflichtungen verbundenen Sanktionen sowie ein „TÜV-Siegel“ für alle zukünftigen TI-Strukturen. Dr. Karsten Braun, Vorsitzender des BVOU-Pressereferats, appellierte im Namen des Verbandes zugleich an die wirtschaftliche Verantwortung der Krankenkassen, keine weiteren TI-Experimente mit nicht mehr zeitgemäßen und störanfälligen Konnektoren zu finanzieren. „Fehler dürfen gemacht werden, aber bitte kein zweites Mal!“, so Braun. Bei einer über 25%igen Ausfallquote der TI sieht Braun in naher Zukunft auch die Gesundheitsversorgung der Patienten ernsthaft gefährdet, sofern bei Medikamentenrezept und Krankmeldung weiterhin dieselbe störanfällige Technik zum Einsatz kommt.
Hintergrund ist der Ablauf fest verbauter Schlüsselzertifikate nach dem RSA-Verfahren in den zur TI-Anbindung von Einrichtungen des Gesundheitswesens bisher erforderlichen Hardware-Konnektoren nach nur fünf Betriebsjahren. Die für die TI verantwortliche gematik hatte vor wenigen Monaten eine Telematikinfrastruktur 2.0 ab dem Jahr 2025 ohne veraltete VPN-Konnektortechnik in Aussicht gestellt und Hoffnungen auf eine Zertifikatsverlängerung bei schon installierten Konnektoren als Übergangslösung gemacht. Obwohl technisch prinzipiell machbar, war vor wenigen Tagen jedoch bekannt geworden, dass zum Weiterbetrieb der TI bundesweit nun doch 130.000 Konnektoren aller drei Hersteller, davon die zuerst installierten 15.150, noch im Jahr 2022 getauscht werden müssen.
EDV-Fachmagazine, wie heise online oder E-Health-Com, sprechen von dreistelligen Millionenbeträgen, die für den Konnektortausch fällig werden. „Wir Vertragsärzte lehnen einen Konnektortausch auf unsere Kosten ab, da es bisher keine einzige TI-Anwendung gibt, von der Arztpraxen oder Patientinnen und Patienten in relevantem Ausmaß profitieren. Vorhandene Anwendungen sind umständlich und schlecht in die Arztsoftware integriert. Der TI-Betrieb funktioniert nicht mit der erforderlichen Betriebssicherheit, ist unzureichend getestet und von Anfang an tauchen Datensicherheitsprobleme auf. Daran werden auch ausgetauschte Konnektoren nichts ändern“, so Braun. In Fachforen wird berichtet, dass die Bauteilverfügbarkeit für neue Konnektoren ohnehin kritisch ist, lediglich CGM noch größere Lagerbestände an Konnektoren alter Bauart habe und eine Verdoppelung der Konnektorenpreise realistisch sein könnte.
Nach Auffassung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) fällt die Finanzierung von Ersatzbedarf ohnehin in die Zuständigkeit der Krankenkassen, faktisch war aber schon deren Erstattung für TI-Erstinvestitionen in den Praxen nicht kostendeckend. Nachdem der tatsächliche Benefit der derzeitigen TI-Anwendungen auch für die Krankenkassen gering sein dürfte, in den Praxen aber zu katastrophalen Zuständen führe, fordert Braun auch die Krankenkassen zu einem wirtschaftlichen Umgang mit den Versichertengeldern auf: „Krankenkassen sollten keine Förderung von Elektroschrott in Praxen übernehmen. Versichertenbeiträge sind auch nicht dazu da, mit aktionistischen Digitalisierungsprojekten die IT-Branche zu subventionieren, die beim Thema TI seit Anfang an Milliardengeschäfte macht. Nach unserer Einschätzung sind auch Krankenkassen daran interessiert, dass in Praxen Patienten versorgt werden und nicht erhebliche Ressourcen in die permanente Beseitigung von TI-Problemen investiert werden. Dies erfordert den Mut, alle in Betrieb befindlichen TI-Anwendungen bis zur Existenz einer ausreichend getesteten, betriebs- und datensicheren TI 2.0 auf Eis zu setzen. Wir brauchen einen ‚TÜV‘ für alle Strukturen der TI.“
Die unter Zeitdruck eingeführte Telematikinfrastruktur steht seit Betriebsbeginn in der Kritik. Zwar sind laut KBV-PraxisBarometer Digitalisierung 2021 des IGES-Institutes 83% der unter 50-jährigen Ärztinnen und Ärzte digitalen Innovationen gegenüber aufgeschlossen und 94% an die TI angeschlossen. Durchgesetzt werden konnte dies jedoch nur mit der Einführung eines 2,5%igen Honorarabzugs bei Nichtanschluss ab April 2020. 32% der 2.836 befragten Ärztinnen und Ärzte haben wöchentlich mit Fehlern bei der TI-Nutzung zu kämpfen, der Anteil der Praxen mit täglichen Störungen hat sich mit 18% gegenüber der Voruntersuchung 2020 sogar verdoppelt. Das sorgt für Frust in Praxen und deren örtlichen IT-Servicepartnern. Fast zwei Drittel der Befragten schätzen die TI daher sogar als Hemmnis für die sinnvolle Digitalisierung im Gesundheitswesen ein. „Nehmen Sie den Zeiträuber täglich mehrfach auftretender Abstürze der zugelassenen ORGA-Kartenlesegeräte an der Praxisanmeldung durch elektrostatische Entladung bei neuen, Near-Field-Communication-tauglichen Versichertenkarten.“ Als weiteres Beispiel nennt Braun den bei unreifer Elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und eRezept in der Anfangsphase erforderlichen Papierausdruck, der bei Barcodedruck mit den in Praxen für die Durchschreibesatzformulare erforderlichen Nadeldrucker um ein Vielfaches länger dauere, als der Ausdruck des bisherigen Formulars. Denn der eAU-Versand funktioniere nur bei 13%. Genauso werde der Arztbriefversand mit KIM wegen der umständlichen Handhabung selbst dort, wo schon installiert, kaum genutzt. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach hatte am 3. März daher selbst ein Aussetzen von eAU und eRezept angekündigt, wurde aber kurz darauf pikanterweise vom eigentlich nachgeordneten gematik-Chef Dr. Markus Leyck Dieken eines Besseren belehrt.
Das Computermagazin c’t deckte 2022 auf, dass selbst beim Versichertenstammdatenmanagement (VSDM) als erster TI-Anwendung, auch 2020 noch mehr als 25% der Anfragen aufgrund zentraler, also nicht in den Praxen zu suchender Fehler fehlschlagen. Im Vergleich mit Geldautomaten, für die eine 24/7 Verfügbarkeit von 99,5% üblich sei, ist das für eine kritische Infrastruktur wie das Gesundheitswesen hochgradig bedenklich. „Denn bei Ausfällen von eRezept und eAU leiden dann unsere Patientinnen und Patienten.“
Auch der Datenschutz bereitet weiter Sorgen. Gegen Sicherheitsmängel in der TI richten sich bereits Klagen des Ärzteverbandes MEDI. Im Dezember 2021 musste die TI aufgrund der Log4j-Sicherheitslücke komplett abgeschaltet werden. „Wir Ärzte lehnen die heimliche Verlagerung der Verantwortung für TI-Datenschutzverstöße in die Praxen ab.“ Denn 2020 trat das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) in Kraft, welche die datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeiten innerhalb der TI neu festlegte. „An erster Stelle in Verantwortung für die ordnungsgemäße Inbetriebnahme, Wartung und Verwendung der Komponenten stehen im § 307 Abs. 1 und 2 SGB V jetzt die Nutzer der TI-Komponenten, also wir.“ Mitte Februar deckte die Computerzeitschrift c’t Datenschutzverstöße in den Protokollen von Secunet-Konnektoren auf. „Was haben wir Anwender bitte damit zu tun? Die meisten von uns wissen wohl nicht einmal, dass der Konnektor derartige Protokolle anfertigt. Auch hier ist ein Umdenken gefordert.“
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