Steigende Implantationsraten, eine zunehmende Indikationserweiterung auf proximale Humerusfrakturen, der Trend zur vermehrten Lateralisierung und Änderung des Prothesendesigns sowie die Entwicklung der patientenspezifschen Instrumentierung – es tut sich etwas in der inversen Schulterendoprothetik.
Seit Einführung der modernen inversen Prothese 1987 durch Paul Grammont hat sich die Versorgungssituation massiv gesteigert. Dies nicht zuletzt aufgrund der langanhaltend sehr guten funktionellen Resultate für unterschiedlichste Indikationsgebiete (Tab.1). Mit nachweislich 15 Jahren Überlebensraten zwischen 80 und 95% (Tab. 2) und über die Zeit stabilen Constant Score Werten zwischen 70 und 85% zeigt die inverse Prothese subjektiv und objektiv denen der Hüftendoprothese vergleichbare Resultate (Tab. 1).
Einschränkungen insbesondere der Rotationsfähigkeit sowie das vermehrt über die Zeit erkennbare scapuläre Notching führten, insbesondere getriggert durch die Biomechanischen Überlegungen von Marc Frankle, zu einer Rückbesinnung
auf ursprüngliche Prothesenformate aus den frühen 70er Jahren. Diese Modelle zeichneten sich insbesondere durch eine vermehrte Lateralisierung der Gelenklinie und anatomische humerale Inkliniation aus. Das frühe Versagen dieser Prothesen resultierte jedoch mitnichten aus diesem Designwie fälschlicherweise häufig zitiert-, sondern aus der vollständigen Kopplung der humeralen und glenoidalen Komponente sowie unzureichender glenoidaler Fixierungsmöglichkeit.
So entstand insbesondere im Laufe der letzten 5 Jahre ein stete Veränderung hinsichtlich Inklination, Retrotorsion und Offset (durch humerale oder laterale, metallische oder biologische Lateralisierung)
Design
Eine der wichtigen Veränderungen ist das Abrücken vom ursprünglichen, von Paul Grammont in den 1980er Jahren entwickelten, Design mit einer humeralen Inklination von 155° hin zu einer vermehrten Lateralisierung mit Verwendung von Humerusschäften mit einer anatomischen Inklination von 135° (Abb. 1). Dies hat theoretisch Einfluss auf Beweglichkeit, Stabilität, Notching, Neuropraxie und Konvertierbarkeit, im Frakturfall auf die Tuberculaeinheilung sowie potentiell durch Reduktion der Distalisierung auf die Häufigkeit von Ermüdungsfrakturen an Spina und Acromion. Die Steilstellung der inversen Prothesenpfanne verringert das Risiko des sogenannten „Inferior Scapular Notching“ (Abb. 2). Zusätzlich entscheidend im Hinblick auf das Notchimpingement ist die ausreichend kaudale Positionierung der Glenoidkomponente.
Unter einem sog. „Notching“ versteht man eine sichtbare Einkerbung am unteren Skapulahals im a.p.-Röntgenbild. Sie entsteht durch einen mechanischen Konflikt bei Adduktion des Armes und wird in vier Grade klassifiziert.8
Auch die Form der Glenosphäre und der Abstand zwischen Drehzentrum und Prothesenschaft hat Auswirkung auf die Biomechanik des Gelenks und die postoperative Beweglichkeit. Umso weiter das Drehzentrum nach lateral und kaudal verlagert wird, umso mehr nimmt der Abstand der Pfanne zum Skapulahals zu und der Bewegungsumfang vergrößert sich.9, 10
In einer Review-Arbeit von Erickson et al.11, die insgesamt 38 Studien und 2.222 Schultern einschloss, wurde nach einem durchschnittlichen Follow-Up von 37,9 Monaten eine Notching-Rate von 2.8% für lateralisierte inverse Prothesen mit 135° und 16.8% für Prothesen mit 155° humeraler Inklination beschrieben.
Prothesen mit 135° humeraler Inklination zeigten bislang jedoch kein erhöhtes Luxationsrisiko, was lange als Gegenargument für die Verwendung von Prothesen mit 135° humeraler Inklination angeführt wurde. Ganz im Gegenteil- der veränderte Kraftvektor des Deltoideus führt zu einer ins Glenosphärenzenztrum zentrierenden und stabilisierenden Delta-Aktivität. In einer kürzlich veröffentlichten randomisierten kontrollierten Studie von Gobezie et al.12 waren keine funktionellen Unterschiede zwischen beiden Prothesendesigns im 2-Jahres-Follow-Up nachweisen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die höhere Notchingrate der 155°-Prothesen die Langzeitergebnisse negativ beeinflusst.
Indikation – Inverse Schulterendoprothetik bei proximalen Humerusfrakturen
Insbesondere bei der Versorgung geriatrischer Patienten mit proximalen Humerusfrakturen nimmt die primäre inverse Arthroplastik einen zunehmenden Stellenwert ein.
Bei in der Literatur beschrieben Revisionsraten von bis zu 25% nach osteosynthetischer Versorgung scheint die primäre inverse Prothese mit Komplikationsraten von unter 5% und zuverlässig guten postoperativen Ergebnissen, insbesondere bei komplexen mehrfragmentären Frakturen, eine geeignete Alternative.13 Für Deutschland konnte im Zeitraum zwischen 2007 und 2016 bereits eine Zunahme der Implantationsraten inverser Schulterprothesen bei proximalen Humerusfrakturen um das Achtfache gezeigt werden.14
Vergleicht man bei der Therapie proximaler Humerusfrakturen die Ergebnisse der inversen Schulterprothesen mit den Ergebnissen der Hemiendoprothesen, so haben mehrere Review-Arbeiten mit großen Fallzahlen und einem Patientenalter über 60 bzw. 65 Jahren signifikant bessere postoperative Ergebnisse sowohl in der Funktion als auch der Beweglichkeit der Schulter bei primärer Implantation einer inversen Prothese gezeigt. Die Flexion war im Schnitt um 24,3° bzw. 21° gebessert und auch die postoperative Schmerzangabe war signifikant geringer.15, 16, 17 Allerdings gilt es zu beachten, dass Langzeit-Resultate abzuwarten sind und auch die optimale operative Versorgung jüngerer Patienten unter 60 Jahren mit komplexen proximalen Humerusfrakturen weiter kritisch diskutiert wird.
Wichtig in Bezug auf die Fraktursituation und das postoperative Ergebnis ist besonders die Refixation und Einheilung der Tuberkula.18 Wir konnten im Rahmen einer multizentrischen Studie zeigen, dass durch die regelrechte Einheilung des Tuberkulum majus sowohl die postoperative Schulterfunktion als auch die subjektive Patientenzufriedenheit signifikant gebessert waren.19, 20 Bei einem Kollektiv von 64 nachuntersuchten Patienten lag der durchschnittliche altersadaptierte Constant Score nach knapp 2 Jahren bei 72%. Bei 77% der Patienten konnte eine regelrechte Einheilung des Tuberculum majus erzielt werden. Sowohl der altersadaptierte Constant Score (78% vs. 54%) als auch die subjektive Patientenzufriedenheit (76% vs. 54%) waren bei diesen Patienten signifikant verbessert.
Omarthrose mit fortgeschrittenem Glenoidverbrauch
Auch bei älteren Patienten mit primärer Omarthrose, welche bereits fortgeschrittene degenerative Veränderungen der Rotatorenmanschette oder eine dorsale Dezentrierung des Humeruskopfes mit posteriorem Glenoidverschleiß zeigen, wird immer häufiger eine primäre inverse Schulterprothese implantiert. Diese Entwicklung ist der Tatsache geschuldet, dass Walch et. al21 bei einer bikonkaven Glenoidkonfiguration eine sehr hohe glenoidale Lockerungsrate bei anatomischen Totalendoprothesen von bis zu 20% nach durchschnittlich 6,5 Jahren Follow-Up nachgewiesen haben.
Außerdem liegen mittlerweile verlässliche Langzeitergebnisse für inverse Prothesen vor, wobei die 10-Jahres-Überlebensrate der primären inversen Prothesen bei 90% liegt.1 Bei einer durchschnittlichen Follow-Up-Zeit von 9,5 Jahren verbesserte sich der absolute und relative Constant-Score signifikant von 24 auf 59 Punkte bzw. von 33% auf 74%. Favard et al. konnten in einer retrospektiven Studie an insgesamt 527 implantierten inversen Schulterprothesen zeigen, dass sich die Beweglichkeit der operierten Schulter für die aktive Elevation auf 128,6°±32,6 bei einer Ausgangsbeweglichkeit von 69,3°±34 verbesserte.22
Patientenspezifische Instrumentierung
Mehr und mehr in den Vordergrund kommt die sogenannte „patienten-spezifische Instrumentierung“ (PSI). Mit diesem Verfahren kann die Genauigkeit und die Platzierung der Glenoidkomponente deutlich verbessert werden. Die Lockerung der Glenoidkomponente stellt nämlich aktuell den häufigsten Grund für ein Prothesenversagen dar.23
Gründe für ein frühzeitiges Versagen können eine Fehlpositionierung, eine inkomplette oder unzureichende Korrektur der pathologischen Glenoidveränderungen, eine persistierende Humeruskopf-Subluxation oder Dezentrierung sowie eine Insuffizienz der Rotatorenmanschette sein.
Ziel der PSI ist es:
- die Glenoidanatomie bestmöglich wiederherzustellen
- den subchondralen Knochensubstanzverlust möglichst zu minimieren
- die Gelenklinie möglichst wenig zu medialisieren
- eine optimale Fixierung und Positionierung der Implantate zu erzielen
- möglichst wenig mechanische Stressbelastung auf das Implantat zu bringen
Für die PSI-Planung stehen unterschiedliche Programme, welche jeweils an ein einzelnes Prothesensystem gebunden sind, zur Verfügung. Präoperativ erfolgt die CT-Planung, welche in möglichst geringer Schichtdicke (max. 1 mm) sowie mit Erfassung der gesamten Scapula durchgeführt wird. Die CT-Daten werden dann online hochgeladen und die Parameter der Scapualgeometrie (Skapulafläche, neutrale Inklinationsachse, Glenoidfläche) bestimmt sowie die virtuelle Planung durchgeführt. Insbesondere werden die optimale Lage des zentralen Bohrdrahts, die Richtung der Gleonidpräparation sowie die Positionierung der Glenoidkomponente definiert. Wenn ein relevanter Knochensubstanzdefekt vorliegt, wird die Notwendigkeit der Korrekturfräßung bzw. der knöchernen oder metallischen Augmentierung überprüft und die genauen Maße des Grafts berechnet. Nach Abschluss der Planung wird das Zielinstrumentarium sowie als Referenz eine Schablone des Glenoids mit einem 3D-Drucker hergestellt. Ein beispielhafter Fall für PSI mit 3D Schablone wird in Abb. 3 dargestellt.
Grundsätzlich muss zwischen patientenspezifischer Instrumentierung (Abb. 3) und intraoperativer Navigation unterschieden werden. Hierfür wird ein CT-Datensatz und in eine Planungssoftware integriert. Im Gegensatz zur PSI kann diese Planung dem Operateur nun in „Real-time“ im Operationssaal zur Verfügung gestellt werden. Dazu werden optische GPS Geräte am Schultergürtel knöchern fixiert und die knöchernen Landmarken definiert, bis eine virtuelle Landkarte des OP-Situs auf dem Bildschirm verfügbar ist und mit der präoperativen CT-Planung gematcht werden kann. In Abb. 4 wird ein Beispielfall mit intraoperativer Navigation demonstriert.
Insgesamt lässt die verfügbare Literatur darauf schließen, dass sich die Genauigkeit der Glenoidimplantation mittels PSI und intraoperativer Navigation verbessert, was dazu führt, dass postoperative Versions- oder Neigungsfehler vermieden werden können.24 Insbesondere bei komplexer Glenoidmorphologie scheint der Einsatz von PSI von Nutzen zu sein.25
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