Berlin – Die Digitalisierung ist eines der wiederkehrenden Kernthemen im Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie. Oft ist es kaum möglich, Visionen und Pilotprojekte von konkreten und nutzbaren Angeboten zu unterscheiden, die bereits in den Alltag Einzug gehalten haben. Für eine rasche Digitalisierung der ambulanten Versorgung machen sich seit der Jahrtausendwende alle Gesundheitsminister stark. Seit dem „Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung“ aus 2003 ist auch die ärztliche Selbstverwaltung aus Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Bundesärztekammer (BÄK) in dieses gigantische Projekt eingebunden. Nach 20 Jahren Projektarbeit und Milliardeninvestitionen sollen hier die wesentlichen Projekte und deren Status reflektiert werden. BVOU-Geschäftsführer Dr. Jörg Ansorg über Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitssystem.
„Digitalisierung“ ist in aller Munde findet in jeder Ecke des Gesundheitssystems statt. Was waren die großen Anwendungsfelder in den letzten Jahren, die unsere Mitglieder beschäftigten?
Dr. Jörg Ansorg: Als erstes ist hier ganz klar die Telematikinfrastruktur (TI) zu nennen. Die TI wurde gemeinsam mit der ersten Version der elektronischen Gesundheitskarte seit 2005 von der gematik entwickelt und in den vergangenen Jahren eingeführt. Alle Vertragsarztpraxen sollten per Gesetz ursprünglich bis Mitte 2019 an die TI angeschlossen sein. Die Frist wurde danach aus verschiedenen Gründen wiederholt verschoben. Vertragsärzte und Praxen, die sich nicht an die TI anschließen, werden per Gesetz mit Sanktionen belegt.
„Digitalisierung“ ist in aller Munde findet in jeder Ecke des Gesundheitssystems statt. Was waren die großen Anwendungsfelder in den letzten Jahren, die unsere Mitglieder beschäftigten?
Dr. Jörg Ansorg: Als erstes ist hier ganz klar die Telematikinfrastruktur (TI) zu nennen. Die TI wurde mit großen Visionen angekündigt und wird gemeinsam mit der ersten Version der elektronischen Gesundheitskarte seit 2005 von der gematik entwickelt. Die Einführung erfolgt nach 15-jähriger Entwicklungszeit schrittweise und ist noch lange nicht abgeschlossen
Alle Vertragsarztpraxen sollten per Gesetz ursprünglich bis Mitte 2019 an die TI angeschlossen sein. Die Frist wurde danach aus verschiedenen Gründen wiederholt verschoben. Vertragsärzte und Praxen, die sich nicht an die TI anschließen, werden per Gesetz mit Sanktionen belegt.
Wie wurde das Projekt TI im BVOU aufgenommen?
Dr. Ansorg: Mit sehr gemischten Gefühlen. Neben Lieferengpässen war die Einführungsphase von Verunsicherung und Sicherheitsbedenken auf Seiten unserer Mitglieder geprägt. Für viele Praxen und Inhaber war es aufgrund suboptimaler Informationspolitik von gematik und Selbstverwaltung unklar, wie die Konnektoren und der Anschluss an die TI funktionieren und wie die Risiken bei Datenverlusten verteilt sind.
Es gab viele Gerüchte und Mutmaßungen, die auf unbekanntem Terrain regelhaft zu einer massiven Verunsicherung führen. Wir erleben das gerade in ähnlicher Weise in der Bevölkerung beim Umgang mit Coronaschutzmaßnahmen, z.B. der Maskenpflicht. Von totaler Ablehnung bis zu übervorsichtigen Autofahrern, die mit selbstgebasteltem Mundschutz allein im Wagen sitzen ist alles dabei.
Bei Anschluss der TI kam vor allem auf, dass die Praxis-IT in vielen Praxen erhebliche Sicherheitsmängel aufweist und der Anschluss an die TI nicht entsprechend den Empfehlungen der gematik erfolgte. Wir haben den Prozess aktiv begleitet und über unsere Kommunikationskanäle Infobrief, Webseite und Newsletter informiert und mit einem Themendossier Hilfestellung gegeben.
Erst nachdem die gematik Mitte 2019 klar dargelegt hat, dass bei korrektem Anschluss der Praxis-IT an die TI der Arzt nicht für Datenpannen oder -verluste „hinter dem Konnektor“ haftet, hat der BVOU-Vorstand empfohlen, sich an die TI anzuschließen.
Die Vorsicht war gewiss nicht ungerechtfertigt: Fehlkonfigurationen von Routern sowie die unverschlüsselte Datenhaltung auf praxisinternen Servern führten 2019 in einer orthopädisch-unfallchirurgischen Praxis in Celle sogar dazu, dass 30.000 Patientendaten frei im Netz verfügbar waren. Diese Panne ist dem IT-Dienstleister der Praxis anzulasten, für dessen Bestellung und sachgerechte Arbeit letztlich der Praxisinhaber verantwortlich ist. Betonen muss man aber, dass dieser Datenschutz-GAU nichts mit dem Anschluss der Praxis an die TI zu tun hatte.
Wer haftet denn generell für die Sicherheit, beziehungsweise wie ist die Sicherheit gegeben?
Dr. Ansorg: Für die Sicherheit der TI trägt die gematik die Verantwortung und hat Ärzte und Psychotherapeuten von der Haftung freigestellt, sofern die Anbindung an die TI vorschriftsgemäß erfolgt ist.
Was bedeutet vorschriftsgemäß?
Dr. Ansorg: Höchste Sicherheit für eine Praxis bietet der Reihenanschluss, bei dem die gesamte Praxis-IT ausschließlich über den Konnektor ans Internet angeschlossen wird. Sollen parallel normale Internetdienste und E-Mail genutzt werden, wird eine komplette Netztrennung für diese Anwendungen empfohlen. Dieser Mehraufwand ist aufgrund der verarbeiteten sensiblen Gesundheitsdaten erforderlich und schützt letztlich auch den Praxisbetreiber vor Regressforderungen bei Datenschutzpannen.
Die erste Anwendung der TI in Kombination mit den elektronischen Gesundheitskarten (eGK) der Patienten ist das Versichertendatenmanagement (VSDM). Wozu dient es?
Dr. Ansorg: Das VSDM dient dazu, die Stammdaten auf der Versicherungskarte aktuell zu halten. Das VSDM ist seit Einführung der TI und Anschluss der Praxen die einzige verfügbare Anwendung. Sie hat für Praxen jedoch keinen wirklichen Wert und ist wesentlicher Grund für die geringe Akzeptanz der gesamten TI unter unseren Mitgliedern und der Ärzteschaft.
Bei so viel Kritik: Welche sinnvollen Anwendungsszenarien sehen Sie denn bezüglich der TI?
Dr. Ansorg: Das ist schwer zu sagen, denn sämtliche für den Praxisablauf und die Effizienzsteigerung der ärztlichen Kommunikation sinnvollen Anwendungen von TI und elektronischer Gesundheitskarte sind nach 15 Jahren Entwicklungszeit aktuell nicht verfügbar und lediglich angekündigt. Hier geht es z.B. um den eArztbrief, das eRezept, die eAU und die elektronische Patientenakte.
Diese Anwendungen werden jedoch erst nach einem mehrere 100 € teuren Software-Update des Konnektors auf den sog. eHealth-Konnektor.
Außerdem ist für diese sinnvollen Anwendungen ein neuer elektronischer Heilberufeausweis (eHBA 2. Generation) erforderlich. Dieser muss bei der zuständigen Ärztekammer neu beantragt werden. Kosten ca. 500 €.
Wegen des fehlenden Nutzens für die Praxen hat die TI bislang mit erheblichen Akzeptanzproblemen zu kämpfen und wirkt selbst für Enthusiasten wie ein zahnloser Tiger. Dass die in den vergangenen 2 Jahren eingeführten Geräte und Karten für den Einsatz sinnvoller Anwendungen gar nicht taugen und nun erneut erhebliche Investitionen auf die Ärzteschaft zukommen, ist ein Skandal.
Und welche Anwendungen sind im Gespräch?
Dr. Ansorg: Beispiele für sinnvolle Anwendungen von TI und eGK sind die qualifizierte elektronische Signatur (QES), das Notfalldatenmanagement (NFDM) auf der eGK, der elektronische Medikationsplan (eMP), elektronische Arztbriefe (eArztbrief, KIM), die elektronische AU-Bescheinigung (eAU), das elektronisches Rezept (eRezept) und nicht zuletzt die elektronische Patientenakte (ePA).
Die Infrastruktur für all diese Anwendungen steht auch nach 15 Jahren Entwicklungsarbeit noch nicht, zunächst müssen Konnektoren und Karten nachgerüstet werden. Erst wenn diese Anwendungen für jeden Arzt und für die sektorübergreifende und interprofessionelle Kommunikation zwischen den Leistungserbringern zur Verfügung stehen, wird sich das Potential der Digitalisierung im Gesundheitssystem zeigen und die Akzeptanz zum Anschluss an die TI auf breiter Basis erhöhen.
Sie haben die elektronische Patientenakte erwähnt. Da gibt es mittlerweile kreative Alternativlösungen, oder?
Dr. Ansorg: Jenseits der nur auf dem Reißbrett verfügbaren zentralen Patientenakte der TI existieren seit Jahren nutzbare Ansätze für elektronische Patientenakten. Vitabook, DoctorBox, Vivy & Co. haben Potential und tragen dem Wunsch, bereits heute digitale Patientendaten in Teilen der Versorgung einzusetzen, Rechnung.
Sie werden im Rahmen von besonderen Versorgungsverträgen und sektorübergreifenden Versorgungsnetzwerken bereits heute erfolgreich eingesetzt. Andere werden von Krankenkassen genutzt, um der gesetzlichen Auflage nachzukommen, ab dem 01.01.2021 jedem Versicherten eine digitale Patientenakte anzubieten.
Schade, dass das Potential der Digitalisierung erst wieder über Insellösungen aufgezeigt werden muss. Hier besteht die Gefahr eines Flickenteppichs verschiedener ePAs. Hinzu kommt die Unklarheit, ob die aktuell eingesetzten Konnektoren technisch überhaupt in der Lage sind, große Dateien, z.B. aus der bildgebenden Diagnostik, zu ver- und entschlüsseln. Hier könnte vor dem voll funktionsfähigen Einsatz ein kompletter Tausch der Geräte anstehen.
Gefragt ist ein kompetenter Moderator, der diese Insellösungen über standardisierte Schnittstellen orchestrieren kann. Die KBV hat hier vom Gesetzgeber einen klaren Auftrag bekommen und sollte diese Moderatorenrolle nicht als Bürde, sondern als Chance für die aktive Mitgestaltung der Digitalisierung annehmen.
Bei diesem doch eher schleppenden Projekt der TI: Schwindet auch die Bereitschaft unter den BVOU-Mitgliedern sich mit der Digitalisierung näher zu befassen?
Dr. Ansorg: Unabhängig von den sich nur langsam durchsetzenden Digitalisierungsprojekten von Gesundheitsministerium und Selbstverwaltung sehen viele Ärzte und Praxen in der Digitalisierung erhebliches Potential. Unsere Mitglieder stehen einer Digitalisierung offen gegenüber.
Wichtig für die Akzeptanz ist eine adäquate Honorierung sowie erkennbare Vorteile gegenüber den bisherigen Praxisabläufen. Digitalisierung wirkt nur über die Veränderung und Optimierung der Prozesse.
Unsere Mitglieder erwarten sinnstiftende Veränderung durch die Digitalisierung.
Viele Kolleginnen und Kollegen wollen nicht mehr warten und nehmen die Digitalisierung der eigenen Abläufe und Angebote selbst in die Hand.
Der BVOU bietet seinen Mitgliedern zahlreiche Vorteile bei Digitalisierungsprojekten an. Welche Beispiele können Sie hier nennen?
Dr. Ansorg: Zur Entlastung des Empfangstresens nutzen mittlerweile viele Praxen ein Online-Terminvergabetool (OTV). Hierbei gehen einige Tools weit über die simple Vergabe eines Sprechstundentermins hinaus. Hinzu kommen Komfortfunktionen für den Patienten wie die SMS-Benachrichtigung oder die digitale Abfrage von Anamnese und Vorbefunden. So können Prozesse in der Praxis optimiert und Ressourcen effizient genutzt werden.
Wir haben seit vielen Jahren eine Kooperation mit samedi, einem renommierten Anbieter der online-Terminvergabe. BVOU-Mitglieder erhalten durch diese Zusammenarbeit viele Vergünstigungen.
Hinsichtlich der andauernden Corona-Pandemie „boomt“ die Videosprechstunde. Wie hat der BVOU auf diesen Trend reagiert?
Dr. Ansorg: Nachdem der Deutsche Ärztetag 2018 das Fernbehandlungsverbot deutlich gelockert hat, konnten Anbieter ihre Softwarelösungen bei der KBV zur Nutzung im ambulanten Versorgungsbereich zertifizieren lassen.
Der BVOU arbeitet hier seit Jahren eng mit der Deutschen Arzt AG zusammen. Sogar eine kostenfreie Nutzung der Software sprechstunde.online während der Krise konnte zum Schutz von Ärzten, Praxisangestellten und Patienten ausgehandelt werden.
Es bestehen noch Zweifel bezüglich der Vergütung der Videosprechstunde. Welche sind das?
Dr. Ansorg: Erste Vergütungsansätze wurden im EBM bereits verankert, sind aber noch verbesserungswürdig. Das Ziel sollte bei Einhaltung der Indikation und Machbarkeit eine äquivalente Vergütung der Videosprechstunde im Vergleich zur Patientenberatung in der Praxis sein. Im Rahmen von Selektivverträgen konnten solche Modelle bereits in die Versorgungsrealität eingeführt werden.
Sehen Sie für die Videosprechstunde auch außerhalb von Corona-Zeiten langfristige Anwendungen?
Dr. Ansorg: Die Videosprechstunde hat erhebliches Potential für die Unterstützung der sektorübergreifenden und interprofessionellen Versorgung. In unserem Fachgebiet ist das vor allem die Zusammenarbeit zwischen Orthopäde und Unfallchirurg mit Physiotherapie oder ambulanter Reha.
Auch im Rahmen von Zweitmeinungsverfahren ist die Videosprechstunde eine interessante Option, mehrere Experten zu Fallkonferenzen zusammenzubringen. Grundbedingung für den Erfolg wird sein, dass alle relevanten Befunde den Experten während der Online-Fallkonferenz digital zur Verfügung stehen. Erst die Verfügbarkeit von Videokonferenz und elektronsicher Patientenakte schaffen hier das Potential für eine Disruption in der Patientenversorgung.
Um es auf den Punkt zu bringen: Was braucht ein Digitalisierungsprojekt um auf Akzeptanz zu stoßen?
Dr. Ansorg: Die eingesetzten Lösungen müssen praktikabel und leicht anwendbar sein und sollten den Anwendern, sprich Ärzten und Patienten einen klaren Mehrwert bieten. Mit dem Einsatz von Videosprechstunden und der Online-Terminvergabe wird der Einstieg in die Digitalisierung leicht gemacht und ebnet den Weg zum digitalen Praxis- und Ressourcenmanagement sowie eine enge Verzahnung mit der digitalen Patienten- und Befundverwaltung im PVS.
Im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie wird der Einstieg in die Digitalisierung mit einer Reihe von Selektivverträgen erleichtert, die zusätzlich eine extrabudgetäre und adäquate Honorierung versprechen. Sie führen in O und U auch zu einer erhöhten Wahrnehmung der Teilnehmer im Netz durch Integration in das Patienteninformationsportal Orthinform – unser hauseigenes Leuchtturmprojekt der Digitalisierung.
Herr Dr. Ansorg, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Janosch Kuno
„Digitalisierung“ ist in aller Munde findet in jeder Ecke des Gesundheitssystems statt. Was waren die großen Anwendungsfelder in den letzten Jahren, die unsere Mitglieder beschäftigten?
Dr. Jörg Ansorg: Als erstes ist hier ganz klar die Telematikinfrastruktur (TI) zu nennen. Die TI wurde gemeinsam mit der ersten Version der elektronischen Gesundheitskarte seit 2005 von der gematik entwickelt und in den vergangenen Jahren eingeführt. Alle Vertragsarztpraxen sollten per Gesetz ursprünglich bis Mitte 2019 an die TI angeschlossen sein. Die Frist wurde danach aus verschiedenen Gründen wiederholt verschoben. Vertragsärzte und Praxen, die sich nicht an die TI anschließen, werden per Gesetz mit Sanktionen belegt.
Wie wurde das Projekt TI im BVOU aufgenommen?
Dr. Ansorg: Mit sehr gemischten Gefühlen. Neben Lieferengpässen war die Einführungsphase von Verunsicherung und Sicherheitsbedenken auf Seiten unserer Mitglieder geprägt. Für viele Praxen und Inhaber war es aufgrund suboptimaler Informationspolitik durch gematik und Selbstverwaltung unklar, wie die Konnektoren und der Anschluß an die TI funktionieren und wie die Risiken bei Datenverlusten verteilt sind. Es gab viele Gerüchte und Mutmaßungen, die auf unbekanntem Terrain regelhaft zu einer massiven Verunsicherung führen. Wir erleben das gerade in ähnlicher Weise in der Bevölkerung beim Umgang mit Coronaschutzmaßnahmen, z.B. der Maskenpflicht. Von totaler Ablehnung bis zu übervorsichtigen Autofahrern, die mit selbstgebasteltem Mundschutz allein im Wagen sitzen ist alles dabei.
Bei Anschluss der TI kam vor allem auf, dass die Praxis-IT in vielen Praxen erhebliche Sicherheitsmängel aufweist und der Anschluß an die TI nicht entsprechend den Empfehlungen der Gematik erfolgte. Wir haben den Prozess aktiv begleitet und über unsere Kommunikationskanäle Infobrief, Webseite und Newsletter informiert und mit einem Themendossier Hilfestellung gegeben. Erst nachdem die gematik Mitte 2019 klar dargelegt hat, daß bei korrektem Anschluß der Praxis-IT an die TI der Arzt nicht für Datenpannen oder -verluste „hinter dem Konnektor“ haftet, hat der BVOU-Vorstand empfohlen, sich an die TI anzuschließen.
Die Vorsicht war gewiss nicht ungerechtfertigt: Fehlkonfigurationen von Routern sowie die unverschlüsselte Datenhaltung auf praxisinternen Servern führten 2019 in einer orthopädisch-unfallchirurgischen Praxis in Celle sogar dazu, dass 30.000 Patientendaten frei im Netz verfügbar waren. Diese Panne ist dem IT-Dienstleister der Praxis anzulasten, für dessen Bestellung und sachgerechte Arbeit letztlich der Praxisinhaber verantwortlich ist. Betonen muss man aber, dass dieser Datenschutz-GAU nichts mit dem Anschluss der Praxis an die TI zu tun hatte.
Wer haftet denn generell für die Sicherheit, beziehungsweise wie ist die Sicherheit gegeben?
Dr. Ansorg: Für die Sicherheit der TI trägt die gematik die Verantwortung und hat Ärzte und Psychotherapeuten von der Haftung freigestellt, sofern die Anbindung an die TI vorschriftsgemäß erfolgt ist.
Was bedeutet vorschriftsgemäß?
Dr. Ansorg: Höchste Sicherheit für eine Praxis bietet der Reihenanschluss, bei dem die gesamte Praxis-IT ausschließlich über den Konnektor ans Internet angeschlossen wird. Sollen parallel normale Internetdienste und eMail genutzt werden, wird eine komplette Netztrennung für diese Anwendungen empfohlen. Dieser Mehraufwand ist aufgrund der verarbeiteten sensiblen Gesundheitsdaten erforderlich und schützt letztlich auch den Praxisbetreiber vor Regressforderungen bei Datenschutzpannen.
Die erste Anwendung der TI in Kombination mit den elektronischen Gesundheitskarten (eGK) der Patienten ist das Versichertendatenmanagement (VSDM). Wozu dient es?
Dr. Ansorg: Das VSDM dient dazu, die Stammdaten auf der Versicherungskarte aktuell zu halten. Das VSDM ist seit Einführung der TI und Anschluss der Praxen die einzige verfügbare Anwendung. Sie hat für Praxen jedoch keinen wirklichen Wert und ist wesentlicher Grund für die geringe Akzeptanz der gesamten TI unter unseren Mitgliedern und der Ärzteschaft.
Bei so vieler Kritik: Welche sinnvolle Anwendungsszenarien sehen Sie denn bezüglich der TI?
Dr. Ansorg: Das ist schwer zu sagen, denn sämtliche für den Praxisablauf und die Effizienzsteigerung der ärztlichen Kommunikation sinnvollen Anwendungen von TI und elektronischer Gesundheitskarte sind aktuell nicht verfügbar und lediglich angekündigt. Hier geht es z.B. um den eArztbrief, das eRezept, die eAU, und letztlich auch um die elektronische Patientenakte.
Diese Anwendungen werden erst nach einem Software-Update des Konnektors sowie aufwändigen Zertifizierungen durch die gematik verfügbar sein. Bislang hat kein Konnektorhersteller ein solches Update im Markt eingeführt. Aufgrund der fest im Konnektor verbauten Sicherheitschips ist es gut möglich, dass für ein Update das gesamte Gerät getauscht werden muss. Außerdem ist für diese sinnvollen Anwendungen der TI auf Ärzteseite ein neuer elektronischer Heilberufeausweis (eHBA 2. Generation) erforderlich. Verfügbarkeit: Unklar. Erst recht nach dem Skandal bei der Ausgabe der Heilberufe- und Praxischipkarten sowie der Lesegeräte Ende 2019.
Wegen des bislang fehlenden Nutzens für die Praxen hat die TI mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen und wirkt selbst für Enthusiasten wie ein schwerfälliger Tanker oder zahnloser Tiger. Es fehlen bis zum heutigen Tag sinnvolle Anwendungen.
Und welche Anwendungen sind im Gespräch?
Dr. Ansorg: Beispiele für die bislang nicht verfügbaren sinnvollen Anwendungen von TI und eGK sind die qualifizierte elektronische Signatur (QES), das Notfalldatenmanagement (NFDM) auf der eGK, der elektronische Medikationsplan (eMP), elektronische Arztbriefe (eArztbrief), die elektronische AU-Bescheinigung (eAU), das elektronisches Rezept (eRezept) und nicht zuletzt die elektronische Patientenakte (ePA).
Die Infrastruktur für all diese Anwendungen steht nach 15 Jahren Entwicklungsarbeit, die Anwendungen fehlen noch immer. Erst wenn diese Anwendungen für jeden Arzt und für die sektorübergreifende und interprofessionelle Kommunikation zwischen den Leistungserbringern zur Verfügung stehen, wird sich das Potential der Digitalisierung im Gesundheitssystem zeigen und die Akzeptanz zum Anschluss an die TI auf breiter Basis erhöhen.
Sie haben die elektronische Patientenakte erwähnt. Da gibt es mittlerweile kreative Alternativlösungen, oder?
Dr. AnsorgJenseits der nur auf dem Reißbrett und in vollmundigen Ankündigungen und Zukunftsszenarien verfügbaren zentralen Patientenakte der TI existieren seit Jahren durchaus Ansätze für elektronische Patientenakten. Vitabook, DoctorBox, Vivy & Co. haben Potential und tragen dem Wunsch, bereits heute digitale Patientenakten in Teilen der Versorgung einzusetzen, Rechnung. Sie werden teilweise im Rahmen von besonderen Versorgungsverträgen oder sektorübergreifenden Versorgungsnetzwerken bereits heute sehr erfolgreich eingesetzt. Andere werden von Krankenkassen genutzt, um der gesetzlichen Auflage nachzukommen, ab dem 01.01.2021 jedem Versicherten eine digitale Patientenakte anzubieten.
Schade, dass das Potential der Digitalisierung nun doch erst wieder über Insellösungen aufgezeigt und bewiesen werden muss. Hier besteht die Gefahr eines Flickenteppichs verschiedener ePAs. Gefragt ist hier ein kompetenter Moderator, der diese Insellösungen über standardisierte Schnittstellen orchestrieren kann. Die KBV hat hier vom Gesetzgeber einen klaren Auftrag bekommen und sollte diese Moderatorenrolle nicht als Bürde, sondern als Chance für die aktive Mitgestaltung der Digitalisierung annehmen.
Bei diesem doch eher schleppenden Projekt der TI: Schwindet auch die Bereitschaft unter den BVOU-Mitgliedern sich mit der Digitalisierung näher zu befassen?
Dr. Ansorg: Unabhängig von den sich langsam durchsetzenden Digitalisierungsprojekten von Gesundheitsministerium und Selbstverwaltung sehen viele Ärzte und Praxen in der Digitalisierung erhebliches Potential. Unsere Mitglieder stehen einer Digitalisierung offen gegenüber.
Wichtig für die Akzeptanz ist eine adäquate Honorierung sowie erkennbare Vorteile gegenüber den bisherigen Praxisabläufen. Digitalisierung wirkt nur über die Veränderung der Prozesse. Alles andere ist Selbstzweck und wird von den Prozeßbeteiligten, also uns selbst, als Augenwischerei durchschaut abgelehnt.
Unsere Mitglieder erwarten sinnstiftende Veränderung durch die Digitalisierung. Insofern kommt allein wegen des Aufbaus der dazu nötigen Infrastruktur noch kein Jubel auf. Und viele Kolleginnen und Kollegen nehmen deshalb die Digitalisierung der eigenen Abläufe und Angebote selbst in die Hand. Sie wollen nicht länger warten und erwarten von der Selbstverwaltung allein nicht viel.
Der BVOU bietet seinen Mitgliedern zahlreiche Vorteile bei Digitalisierungsprojekten an. Welche Beispiele können Sie hier nennen?
Dr. Ansorg: Zur Entlastung des Empfangstresens nutzen mittlerweile viele Praxen ein Online-Terminvergabetool. Hierbei gehen einige Tools weit über die simple Vergabe eines Sprechstundentermins hinaus. Hinzu kommen Komfortfunktionen für den Patienten wie die SMS-Benachrichtigung oder die digitale Abfrage von Anamnese und Vorbefunden. So können Prozesse in der Praxis optimiert und Ressourcen effizient genutzt werden.
Wir haben seit vielen Jahren eine Kooperation mit samedi, einem renommierten Anbieter der online-Terminvergabe. BVOU-Mitglieder erhalten durch diese Zusammenarbeit viele Vergünstigungen.
Im Rahmen von besonderen Versorgungsverträgen können außerdem Befunde gesammelt und Behandlungsergebnisse (PROMS) ausgewertet werden. So entstehen mit digitaler Unterstützung integrierte Versorgungspfade für eine optimierte Behandlungsqualität.
Hinsichtlich der andauernden Corona-Pandemie „boomt“ die Videosprechstunde. Wie hat der BVOU auf diesen Trend reagiert?
Dr. Ansorg: Nachdem der Deutsche Ärztetag 2018 das Fernbehandlungsverbot deutlich gelockert hat, konnten Anbieter ihre Softwarelösungen bei der KBV zur Nutzung im ambulanten Versorgungsbereich zertifizieren lassen. Der BVOU arbeitet hier seit Jahren eng mit der Deutschen Arzt AG zusammen. Sogar eine kostenfreie Nutzung der Software sprechstunde.online während der Krise konnte zum Schutz von Ärzten, Praxisangestellten und Patienten ausgehandelt werden.
Es bestehen noch Zweifel bezüglich der Vergütung der Videosprechstunde. Welche sind das?
Dr. Ansorg: Erste Vergütungsansätze wurden im EBM bereits verankert, sind aber noch verbesserungswürdig. Das Ziel sollte bei Einhaltung der Indikation und Machbarkeit eine äquivalente Vergütung der Videosprechstunde im Vergleich zur Patientenberatung in der Praxis sein. Im Rahmen von Selektivverträgen konnten solche Modelle bereits in die Versorgungsrealität eingeführt werden.
Sehen Sie für die Videosprechstunde auch außerhalb von Corona-Zeiten langfristige Anwendungen?
Dr. Ansorg: Die Videosprechstunde hat erhebliches Potential für die Unterstützung der sektorübergreifenden Versorgung. Erste Initiativen zur (Video-)Vernetzung von Kliniken und Praxen laufen bereits.
Auch im Rahmen von Zweitmeinungsverfahren ist die Videosprechstunde eine interessante Option, mehrere Experten zu Fallkonferenzen zusammenzubringen. Grundbedingung für den Erfolg solcher Zweitmeinungsprojekte ist, dass alle relevanten Befunde den Experten digital zur Verfügung gestellt werden und auch die Fallkonferenz selbst komplett digital durchgeführt wird.
Um es auf den Punkt zu bringen: Was braucht ein Digitalisierungsprojekt um auf Akzeptanz zu stoßen?
Dr. Ansorg: Die eingesetzten Lösungen müssen praktikabel und leicht anwendbar sein und sollten den Anwendern, sprich Ärzten und Patienten einen klaren Mehrwert bieten. Mit dem Einsatz von Videosprechstunden und der Online-Terminvergabe wird der Einstieg in die Digitalisierung leicht gemacht und man erhält einen Einstieg ins digitale Praxis- und Ressourcenmanagement und eine enge Verzahnung mit der Patientenverwaltung im PVS.
Im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie wird der Einstieg in die Digitalisierung mit einer Reihe von Selektivverträgen erleichtert, die zusätzlich eine bessere Honorierung sowie eine erhöhte Wahrnehmung der Teilnehmer im Netz durch Integration in das Patienteninformationsportal Orthinform versprechen, übrigens unser hauseigenes Leuchtturmprojekt der Digitalisierung.
Herr Dr. Ansorg, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Janosch Kuno, BVOU-Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.