„Choosing wisely“ – Hinter diesem Leitspruch verbirgt sich eine vor fünf Jahren gestartete Initiative, die die Themen Indikationsqualität, Patientenkommunikation sowie Über- und Unterversorgung in den Fokus des ärztlichen Handelns rücken will. Ausgehend von den USA, ist die Initiative mittlerweile auch in Deutschland angekommen und wird in zahlreichen Gremien und auf Tagungen diskutiert, so auch auf dem diesjährigen DKOU. Im Interview spricht Kongresspräsident Dr. Manfred Neubert über die Bedeutung von „Choosing wisely“ für die Orthopädie und Unfallchirurgie.
BVOU.net: Herr Dr. Neubert, Sie setzen sich als DKOU-Kongresspräsident dafür ein, sich auch in O und U mit dem Thema „Klug entscheiden“ beziehungsweise „Choosing wisely“ zu befassen. Woher kommt Ihr Interesse an dem Thema?
Dr. Manfred Neubert: Schon auf dem DKOU 2015 war „Choosing wisely“ ein Thema. Es war für mich danach nicht zu übersehen, dass es in der medizinischen Öffentlichkeit zunehmend diskutiert wird. Die Bundesärztekammer hat eine große Tagung zu dem Thema veranstaltet, die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin veröffentlicht mittlerweile regelmäßig ihre Empfehlungen zum klugen Entscheiden im Deutschen Ärzteblatt. Dieser Entwicklung kann sich O und U nicht verschließen.
BVOU.net: Warum eigentlich nicht?
Neubert: In der Debatte werden Knackpunkte der Gesundheitsversorgung aufgegriffen, konkret Über-, Unter- und Fehlversorgung – und wie man solche unerwünschten Effekte vermeiden kann.
BVOU.net: Sind Handlungsempfehlungen für die Orthopädie und Unfallchirurgie schwerer zu formulieren als für andere Fachgebiete?
Neubert: In gewisser Weise ja. Vereinfacht gesagt, gibt es in O und U häufig nicht so etwas wie den Laborwert X, bei dessen Überschreitung Y gemacht werden muss. Uns fehlen teilweise die harten Kriterien anderer Fächer. Ich meine das nicht despektierlich im Hinblick auf die Entscheidungsfindung von Kollegen anderer Fachgebiete.
Gerade niedergelassene Orthopäden behandeln aber häufig Patienten, deren Beschwerden erst einmal sehr subjektiv sind und mit denen gemeinsam man herausfinden muss, welche Behandlung für sie die beste ist. Wir verweisen ja nicht umsonst immer wieder darauf, dass ein Röntgenbild oder andere Befunde natürlich hilfreich sind bei Entscheidungen, aber eben nicht allein entscheidend.
BVOU.net: Was fehlt also noch für ein „Choosing wisely“?
Neubert: Wir arbeiten ja bereits mit Leitlinien und achten im Idealfall auch darauf, zu einer gemeinsamen Therapieentscheidung mit unseren Patienten zu kommen. Aber ich würde mir noch klarere Richtlinien zum Beispiel für die Indikation von Operationen wünschen. Das ist allerdings ein komplexer und langer Prozess.
BVOU.net: Hat sich Ihre Arbeitsweise durch die Auseinandersetzung mit dem Thema verändert?
Neubert: Ich glaube schon. Mir ist noch deutlicher als vorher geworden, wie wichtig es ist, seine eigenen Indikationen zu überprüfen – sowohl individuell als auch gemeinsam mit dem jeweiligen Patienten. Eine Hüfte kann noch so gut eingebaut sein, aber wenn die Indikation nicht gestimmt hat, war es im Grunde keine erfolgreiche OP.
BVOU.net: Gibt es Patientengruppen, von denen Sie sagen würden: Bei diesen Frauen und Männern müsste man die Indikation generell strenger überprüfen?
Neubert: Nein, das kann man so nicht sagen. Man muss immer sehr sorgfältig überlegen, ob beispielsweise eine Operation hilft oder etwas anderes. Das gilt nicht nur für jüngere Patienten, bei denen man ja stets bedenken muss, dass eine künstliche Hüfte nicht ewig hält, sondern auch für sehr alte Menschen, bei denen das OP-Risiko in guter Relation zum Nutzen stehen muss.